Guenter Mallmann – Fachjournalist im DJV

Alle meine Schleusen

Allein mit dem Motorkreuzer «Projekt zwei» von Düsseldorf über Paris nach Chalon-sur-Saône und zurück – Was davon im Gedächtnis haften blieb
Von Günter Mallmann

Irgendwann dämmerte es mir: Du drehst an einem für deine Verhältnisse ganz schön großen Rad. Aber da war ich schon jenseits des point of no return, in Nordfrankreich, auf dem Weg nach Paris.
Am Ende meiner Reise hatte ich exakt 500 Schleusen durchfahren, hatte in 417 Stunden am Ruder ziemlich genau 2.450 Kilometer hinter mich gebracht und war froh, nach dreieinhalb Monaten wieder im Hafen des Düsseldorfer Yachtclubs in meiner Box festzumachen.

Die Vorgeschichte

Foto: Guenter Mallmann

Ende einer langen Reise im Hafen des Düsseldorfer Yacht-Clubs. Wenn ich lange Unterhosen gehabt hätte, ich hätte sie an diesem 19. September angezogen.

Meine Führerscheine binnen und buten habe ich vor über 30 Jahren gemacht. Nach mehreren kleinen Schlauchbooten war ich bei einem Zodiac Grand Raid II angekommen, mit dem ich die Inselwelt der Nördlichen Sporaden in Griechenland erkundete, und hatte mir schließlich von einem Bootsbauer ein richtiges griechisches Kaiki aus Pinienholz bauen lassen. Als Antrieb diente mir ein VW-Golf-Diesel, den ich mit Vetus-Teilen zum Bootsmotor umbaute. Ein herrliches kleines Schiff von 7,5 Metern Länge.

Damit war das Fahren in den Gewässern zwischen der Halbinsel Pilion und der Insel Skiathos eine wundervolle Sache. Bis ich im gefürchteten Meltemi, dem harten nachmittäglichen Wind, das Ruder verlor. Der Fischer, der mein Boot über Winter betreute, hatte nach der Überholung einen Sicherungssplint vergessen. Ich habe dieses Abenteuer überlebt, mir aber geschworen, nie wieder auf hoher See zu fahren.

Im letzten Jahr habe ich dann eine Vri-Jon Standard gekauft. Ein holländischer Stahlbau, Baujahr 1989, 11 Meter lang, mit einem Sechzylinder-Turbodiesel von DAF, mit Bugstrahlruder und all den Dingen, die das Leben an Bord angenehm machen. Nach einigen Monaten Arbeit, das Boot sah prima aus, war aber in teilweise merkwürdig schlechtem Zustand, sollte die Reise beginnen.

Man hätte denken sollen, dass der Umstieg von 7,5 Meter Kaiki auf 11 Meter Vri-Jon nicht sehr dramatisch sein könne. Irrtum. Ich war Pinnensteuerung gewohnt (auch mein Zodiac hatte ich gegen alle guten Ratschläge anderer Bootsfahrer von der Pinne aus gefahren); in Griechenland gab es zumindest in meinem Revier keine Liegeplätze wie hierzulande. Man fährt da im rechten Winkel auf den Kai zu, setzt im Abstand von 30 Metern den Heckanker, fährt vorsichtig an die Mole ran, belegt das Ankertau an einem achterlichen Poller und springt an Land, um irgendwo eine Bugleine zu belegen. Nix da mit In-die-Box-Reinzirkulieren. Und nix da mit Anmelden an der Schleuse per Funk. Nix da mit Hafenmeister, Formalitäten, Bezahlen, Stromanschluss, Waschmaschine und Dusche.

Das alles musste ich in den ersten Tagen dieser Reise erst erfahren, einüben, mental und praktisch mir zu Eigen machen. Von einigen Chartertörns in England und Frankreich waren mir allerdings der Umgang mit größeren Schiffen und das Schleusen doch ein wenig bekannt. Also traute ich mir zu, diese Reise weitgehend allein zu machen.

Die Route: über Maas, Marne, Seine, Loire, Saône, Saar, Mosel und Rhein zurück nach Düsseldorf.

Diese Reise: Von Düsseldorf sollte es rheinabwärts gehen bis Nijmegen, dort den Waalkanal aufwärts zur Maas, diese hoch bis zum Ende, dort über Kanäle und die Marne nach Paris, dann die Seine aufwärts bis zum Abzweig der «Burgunder-Route», also entlang der Loire bis an deren Ende in Digoin. Dann weiter den Canal du Centre bis Chalon-sur-Saône. Von dort wollte ich die Saône hinunter und über Backbord in das Flüsschen Seille bis zu dessen Ende in Louhans, wieder zurück auf die Saône und diese hinauf bis zum Ende.

Die weitere Route sah vor, über den Vogesenkanal mit einem Abstecher nach Epinal nach Nancy zu fahren und dort auf den Canal de la Marne au Rhin in Richtung Strasbourg einzuschwenken, um bei Gondrexange auf den Saar-Kohlen-Kanal zu kommen. Das weitere war schon Schlussspurt: die Saar hinunter, dann die Mosel bis Koblenz und die letzten 140 Kilometer Rhein bis in den Heimathafen.

An einem herrlichen Sonnentag ging es los. Es war der 6. Juni. An Bord außer mir meine Frau Linde, die bis Venlo dabei sein sollte, und mein Freund Peter, der uns bis zum ersten Tagesziel, dem Sportboothafen von Wesel, begleiten wollte. Für Peter war das alles ziemlich neu, und als von hinten furchterregend ein riesiger Schubverband mit hohem Tempo heranrauschte, flüchtete er ziemlich verschreckt in Richtung rechtes Ufer. Ein schriller Ton vom Echolot und ein dumpfer Ton vom Boden her. Grundberührung, die Reise hätte schon zu Ende sein können.

Ich habe daraus gelernt und das Warnsignal des Echos auf 2,5 Meter hochgestellt und mir vorgenommen, beim Passieren flacher Strände die Anzeige nicht aus dem Auge zu lassen.

Foto: Blick aus der Kombuese

Das Bulleye der Kombüse bietet eine ungewohnte Perspektive auf den Yachthafen von Wesel.

Beim Anlegen in Wesel half ein freundlicher Mensch im blauen Overall und Linde meinte, ich müsse diesen netten Hafenmeister mit mindestens 4 Euro Trinkgeld belohnen. Er hat entrüstet abgelehnt. Er war ganz einfach Stegnachbar. Ich habe die Lektion begriffen: Stegnachbarn helfen selbstlos und hingebungsvoll. Das wollte ich ab jetzt auch tun, und wenn darüber das Essen kalt würde.

Meine erste Schleuse war die in Nijmegen bei der Einfahrt in den Waal-Kanal. Anmelden auf Kanal 18. Wie war das noch mal? Das Wissen aus dem Funk-Kurs war wie weg geblasen, schließlich wusste ich nicht mal mehr den Namen meines Bootes.

Die Schleuse war riesig und wir lagen hinter einigen Güterschiffen und Schubverbänden sehr klein an der Schleusenwand. Alles kein Problem, und am oberen Schleusentor stieg Linde auf ihr Fahrrad. Ich war allein an Bord und war mir sicher, dass ich die nächsten Schleusen auch allein fahren könne. Habe ich auch problemlos geschafft.

Ich begann, mich sicher zu fühlen. Vielleicht ein bisschen zu früh. Bei einer der nächsten Schleusen machte mir der Schleusenwärter über Funk Druck. Die Berufsschifffahrt will nicht so lange warten. Also rein in eine Schleuse, die voll ist wie die S-Bahn im morgendlichen Berufsverkehr. Und noch bevor ich an Backbord an einem Poller festmachen kann, legt das Riesenschiff rechts neben mir das Ruder hart backbord und gibt einen gehörigen Gasstoß auf die Schraube.

Foto: Schleuse auf der Mass

Reger Betrieb in einer Großschleuse auf der Maas. Da fühlt man sich als kleiner Bootfahrer wie Fliegenschiss an der Schleusenwand.

Es knallt mich mit Macht gegen die Wand. Hilflos stehe ich da und sehe zu, wie mein Schiff zerlegt wird. Ende einer Reise.

Aber es war nicht so schlimm, die Fender an Backbord haben es überlebt, die Reling hat etwas von ihrem frischen Glanz eingebüßt. «Mehr Fender», das ist mir klar. Es wird aber noch einige Wochen dauern, bis ich diese Erkenntnis umsetzen kann. Es gab entlang meiner Route keine Läden, die Fender entsprechender Größe im Angebot hatten. Erst an der oberen Saône fand ich das, was ich seit Wochen gebraucht hätte.


Nach den ersten Schleusen fühle ich mich schon fit – zu Unrecht.

Linde steigt in Venlo wie geplant aus. Ab jetzt bin ich wochenlang allein. Mein Tagesrhythmus spielt sich ein: Nach dem Aufstehen zu Fuß oder per Fahrrad zum Bäcker, Frühstück, Check von Maschine und Aggregaten, vier bis sechs Stunden am Ruder, Anlegen in einem Hafen oder am Ufer, Rundgang/Fahrradfahrt durch die Stadt, das Dorf, die Umgebung, Einkaufen, Kochen, Essen, Spülen, Tagebuch, Klön mit Stegnachbarn, etwas Lektüre, Bett.

Foto: Felsmassiv am Lauf der Mass

Schroffe Felswände versuchen immer wieder, den Lauf der Maas zu stoppen. Vergeblich. Freeclimber hinwiederum freuen sich über diese Wände. Sie hängen dran wie Fliegen am Fenster.

Im französischsprachigen Teil von Belgien fühle ich mich fast schon zu Hause. Ich führe Selbstgespräche in Französisch, ich träume Französisch, ich merke, wie mich diese Reise, dieses Alleinsein mit seinen ganz spezifischen Anforderungen so mählich verändert. Mein inneres Tempo wird langsamer. Nicht, dass ich jetzt für die paar Schritte vom Achterdeck in den Bug einige Sekunden länger brauche. Aber mein Schritt wird gewichtiger, ruhiger, sicherer. Meine mentalen Reaktionen ebenso.

Belgien ist zunächst eine Herausforderung. Viel Berufsverkehr, hässliche Industrielandschaft, keine schönen Liegemöglichkeiten. Oberhalb von Liège ändert sich das. Die Berufsschifffahrt nimmt schlagartig ab, der Fluss wird wunderschön. Auch das Wetter tut so, als sei tatsächlich Sommer. Ich fange an, mein Abenteuer richtig zu genießen.

Im Internet habe ich viel gelesen über die gnadenlose holländische Wasserschutzpolizei. Dass sie mich heimtückisch auf Kanal 10 anrufen, um zu kontrollieren, ob ich auch tatsächlich auf diesem Kanal mithöre. Dass sie alle Papiere sehen will, wirklich alle. Und das Fehlen eines Wischs mit hohen Strafen belege. Ich habe mich auf der Maas häufig umgesehen, immer ein bisschen mit der Angst, dass da hinten ein Boot der Polizei herangeschossen kommen könne. Ich habe nie eines gesehen.

Und jetzt das: An der Steuerbordwand der letzten Schleuse in Belgien steht ein Uniformierter ­ Police fluviale oder so ähnlich. Zunächst belehrt er mich, wie ich anzulegen habe. Anlegen? Ich habe längst gelernt, mich mit der Maschine in der Schleuse zu halten, ganz ohne Festmacher. Aber die Pistole an seiner Hüfte ist ein Argument. So stehe ich denn da mit einer Leine zu einem Poller vor dem Bug und einer anderen hinter dem Heck. Ganz wie ein Zirkusartist, der auf zwei Pferden stehend durch die Arena galoppiert. Ich mache auf gut Wetter, rede von der wunderschönen Landschaft, vom noch schöneren Wetter, darüber, dass ich ja nun leider sein schönes Land verlasse.

Er springt federnd an Bord und bittet um meine Papiere. Ich hole den entsprechenden Ordner hoch und zeige ihm, was ich habe. Penibel hakt er alles auf seiner Kladde ab. Selbst den Feuerlöscher lässt er sich zeigen, um den Stempel zu kontrollieren. Und dann die Frage: Wo ist ihr Hilfsmotor? Hilfsmotor? Ja, seit Anfang des Jahres muss jede Yacht in Belgien einen Hilfsmotor haben. Mir schießt durch den Kopf, wie groß dieses Ding bei mir wohl sein müsse. Reichen 50 PS? Und wo sollte ich diese Maschine festmachen? Aber er kommt mir entgegen. Sind das da die Druckschalter für das Bugstrahlruder?, fragt er. Ja, das sind sie. Ratsch, ratsch, ein Schlag nach Steuerbord, ein Schlag nach Backbord. Das gilt als Hilfsmotor, gratuliert er mir freundlich. Wir verabschieden uns mit Handschlag.

Genau vor der Grenze zu Frankreich mache ich eine Tankstelle aus. «Gasoil de Transit» steht auf einem Schild. Es ist Sonntag. Trotzdem lege ich an und gehe hoch zu dem kleinen Supermarkt. Da werkelt ein Pärchen im Gemüsegarten. «Sonntag», sagt er einsilbig, und «Wie viel wollen sie denn?» Die Menge scheint das Sonntagsverbot außer Kraft zu setzen. Die Frau schleppt den Tankschlauch auf mein Boot und dreht den Hahn auf. Dass ich sogenannten «roten», also steuerfreien Diesel getankt habe, wird mir erst viel später klar.

Eine Stunde später bin ich in Frankreich – so zu sagen zu Hause. Ich fahre mit dem Rad durch Givet, gucke, wo der Bäcker ist und wo ich mir morgen früh eine französische Prepaid-Handykarte kaufen kann. Denn ich möchte zwar gern angerufen werden, aber nicht die hohen Roaminggebühren zahlen.

Nach meiner Streckenkarte steht der erste Tunnel an. Schmal, ungepflegt, unbeleuchtet, unangenehm. Ich bereite mich vor, Positionslichter an, den 100-Watt-Handscheinwerfer in Griffweite.

Der erste Tunnel ist ein Abenteuer

Foto: Zugbruecke bei Givet/Frankreich

Eine Aufnahme aus Holland? Nee, das ist eine Zugbrücke kurz vor Givet, dem ersten Hafen auf französischem Territorium an der Maas/Meuse

Vor mir läuft ein holländischer Segler ein, ich folge in 100 Metern Abstand. Geht ganz gut. Aber es wird dunkel und dunkler. Der Holländer verheddert sich, bleibt quer zur Fahrtrichtung stehen. Er versperrt mir jetzt vollständig den Blick auf den Tunnelausgang und damit die Orientierung. Ich muss ebenfalls auskuppeln. Und von hinten läuft ein weiteres Schiff ein. Das macht es noch dunkler. Mir fehlt die dritte Hand, um neben Ruder und Gashebel auch noch die Handlampe zu bedienen. Ich verfehle auf dem Steuerpult die Taste für das Bugstrahlruder und gebe statt dessen einen furchterregend lauten Ton mit dem Kompressorhorn ab. Dann drücke ich die Steuerbordtaste des Bugstrahlers. Backbord wäre entschieden besser gewesen.

Mein Bug muss um Zentimeter die roh behauene Wand des Tunnels verfehlt haben. Der Holländer kommt wieder in Fahrt und ich zuckele ihm nach. Endlich draußen, nichts passiert. Den nächsten Tunnel nehme ich, als sei das meine tägliche Strecke zur Arbeit...

Foto: Guenter Mallmann auf dem Kajütdach

Der Autor freihändig auf dem Kajütdach – und die Sonne lacht dazu

Das Wetter ist weitgehend gut. Ich komme gut voran. Im Hintergrund aber lauert etwas, was ich eigentlich nicht haben will: die Absicht, zu einem bestimmten Termin an einem bestimmten Ort zu sein, weil dort Linde und ein befreundetes Paar aus Düsseldorf günstig an Bord kommen können, um einige Tage mit mir zu fahren. Andererseits freue ich mich auf Linde und die Freunde und will alles tun, um diesen Plan möglich zu machen.

Ich verordne mir also längere Fahrzeiten pro Tag. Ich verzichte darauf, mir meine Übernachtungsorte in Muße anzusehen. Das Wetter wird schlechter. Frierend stehe ich am oberen Steuerstand und kann mich nicht entschließen, von unten zu fahren. Da sieht man zu wenig, da ist man zu weit weg vom Wasser. Und oben schützt mich noch die Sprayhood, obwohl ich sie in der Mitte habe aufrollen müssen, um nach vorne sehen zu können. Aber ich kann links oder rechts vom Ruder stehen, einigermaßen geschützt vor dem eisigen Wind. Und in Schleusen werde ich so und so nass – immer wieder.

Die Sprayhood: Schon im Hafen von Düsseldorf habe ich festgestellt, dass sie mit 3,60 Meter über der Wasserlinie zu hoch sein wird für die Brücken in Frankreich, die 3,50 Meter als Mindestmaß haben. Aber ich lasse sie stehen, bis ich an eine Brücke komme, wo es mir entschieden zu knapp zu werden scheint. Tatsächlich, ich würde sie abreißen. Also Maschine voll zurück. Im strömenden Regen demontiere ich Gestänge und Tuch.

Foto: Ulrich am Ruder

Die Mafia hat übernommen. Ulrich am Ruder.

Es ist noch früher Nachmittag, aber ich schalte schon einmal die Positionslichter an, so dunkel ist es. Einige hundert Meter später signalisiert mir eine Peniche per Scheinwerfer ihr Kommen. Es ist sehr eng hier, die linke Seite des Kanals ist bis zu einem Drittel der Breite zugewachsen. Ganz langsam taste ich mich an das Ufer heran, das hier aus Geröll besteht. Es knirscht unter dem Rumpf, ganz leise, fast friedlich. Die Peniche zieht ganz langsam, ganz dicht vorbei, der Kapitän bedankt sich für meine Rücksichtnahme und legt den Hebel auf den Tisch. Mit dem Sog komme ich automatisch aus meiner unbequemen Situation frei.

Ich lerne daraus: Wenn ein großes Schiff mich zwingt, ins Flachwasser auszuweichen, hilft es mir mit seinem Sog auch, daraus wieder frei zu kommen, ohne die Schraube zu riskieren. Meine Expressfahrt durch Nordfrankreich findet ein Ende. Eine Stunde vor Ankunft von Linde und dem Freundespaar bin ich in Rethel.

Wir hieven die Fahrräder an Bord, Heide und Ulrich beziehen die Bugkabine. Natürlich juckt es beide, auch mal das Ruder zu übernehmen. Ich lasse mich lang und breit über das Steuern aus. Trotzdem fahren die beiden zu Anfang einen anmutigen Zickzack-Kurs. Aber beide lernen sehr schnell. Nach einer Woche ist Ulrich so fit, dass ich ihm die Einfahrt in Schleusen überlasse. Natürlich stehe ich so, dass ich jederzeit helfend/rettend eingreifen könnte.

Foto: Kanalbrücke

Die Durchfahrhöhe von 3,5 Meter auf den Kanälen sollte man ernst nehmen. Wer es nicht tut, fügt Boot und Brücke Schaden zu!

Linde und Heide beschließen, einige Kilometer per Fahrrad auf dem Treidelpfad zu fahren. Wir machen einen Hafen aus, wo wir sie wieder an Bord nehmen wollen. Der kleine Hafen sieht unverdächtig aus. Poller dick wie Putzeimer signalisieren, dass hier Güterschiffe anlegen, oder vielleicht auch früher mal angelegt haben?

Mir ist nicht ganz wohl. Und dann beginnt auch schon das Echolot zu fiepen. Gleichzeitig sehe ich, dass meine Schraube dicken, öligen Schlamm aufwühlt. Volle Kraft zurück. Aber es ist zu spät. Der Impeller des Seewasserkreislaufs hat sich schon reichlich am fetten Schlamm bedient. Der Filter ist zu wie ein Kuchenblech, die Leitungen ebenfalls. Ich muss die Ventile demontieren, mit Draht die Leitungen frei stoßen, mit einem dünnen Schlauch durchspülen.

Foto: Dickschiff Delta

Zum Glück für uns Freizeitschiffer gibt es nur wenig Berufsverkehr auf den Kanälen. Man muss oft ganz nahe ran an die Dickschiffe.

Wie schon einige Male zuvor bin ich glücklich, dass ich einige Kisten mit Werkzeug und Material dabei habe. So viel, dass ich mein Teflondichtband nicht finde. Ein deutscher Skipper hilft mir aus. Ich werde mein Werkzeug und Material noch konsequenter nach Sparten sortieren.

Wir liegen am komfortablen Pontonsteg von Mareuil-sur-Ay. Da kommt ein riesiger Kranwagen und richtet sich ein. Eine ganz neue deutsche Yacht hat an der Drehbrücke kurz oberhalb des Hafens Grundberührung gehabt und die Schraube ruiniert. Als das 14-Meter-Schiff an Land liegt, stellt sich heraus, dass auch die Antriebswelle einen Schlag abbekommen hat.

Foto: Tunnel bei Mont de Billy

Das Souterrain von Mont-de-Billy, immerhin 2.300 Meter lang. Heide, Ulrich und der Autor blicken angespannt auf das Licht am Ende des Tunnels.

Ein Belgier ist ganz spontan davon begeistert, das große Boot über unendlich viele Schleusen nach Vitry-le-François zu schleppen, weil dort eine Werft die Reparatur ausführen können soll.

Ich beschließe, noch vorsichtiger zu sein. Ein Desaster mit Schraube oder Ruder kann ich mir nicht leisten. Heide und Ulrich steigen in der Champagnerstadt Epernay aus. Von hier aus haben sie eine günstige Zugverbindung zurück nach Rethel, wo ihr Auto steht. Eigentlich haben sie die Reise gut überstanden. Allerdings haben sie sich beide infiziert. Nicht Fußpilz oder so was, sondern Bootsbazillus. Das unbezähmbare Verlangen nach mehr.

Foto: Tunnel bei Epernay

Das Ende fest im Blick – Aber es kommt und kommt nicht näher.

Linde und ich fahren allein weiter. Wir kommen nach La Ferté-sous-Jouarre. Die Flusskarte verzeichnet einen kleinen, stadteigenen Yachthafen an Steuerbord. Eine schmale Rinne, an Backbord Schwimmstege. Ich steuere den letzten an. Aber dahinter gibt es keine Wendemöglichkeit.

Am nächsten Morgen muss ich rund 400 Meter in der schmalen Rinne rückwärts aus dem Hafen hinaus. Wer da kein Bugstrahlruder hat, hat schlechte Karten. Wahrscheinlich hat noch nie einer der Stadtpolitiker den Fuß auf ein Schiff gesetzt, sonst hätte er dafür gekämpft, dass am Hafenende ein Wendebecken ausgebaggert worden wäre, was im übrigen überhaupt kein Problem gemacht hätte.

Die Marne – Ein wunderschöner Fluss mit grauenhafter Geschichte

Foto: Stadthafen von Ferté sous Jouarre

Der – kostenfreie – Stadthafen von La Ferté-sous-Jouarre. Wunderschön gelegen, aber ohne Wendemöglichkeit.

Die Marne ist ein eigenartiger Fluss. Ihr Oberlauf schlängelt sich gemütlich durch das Hügelland. Wenn man ausblendet, dass hier in zwei Weltkriegen hunderttausende von jungen Menschen ihr Leben verbrecherischen nationalistischen Ideen haben opfern müssen, könnte man sich wohlfühlen. Das Grausen über Verblendung und Irrsinn schiebt sich dann doch vor die schöne Optik.

Wir besuchen das nationale Mahnmal für die Toten oberhalb der Kleinstadt Lagny. Ein triumphaler Bau, die verblichenen Fotos von ausgemergelten Poilous bilden einen kaum auszuhaltenden Kontrast zur Monstrosität der neoklassizistischen Protzarchitektur.

Näher an Paris heran. Man riecht förmlich schon die Ausdünstung der Millionenstadt. Hier gibt es rechts und links reichlich Baggerseen, Sandverladekais, Kiesrampen. Und unzählige Frachtschiffe, die dieses Material in die Metropole transportieren. Sie fahren mit gnadenlos hohem Tempo, ein liegendes Boot interessiert überhaupt nicht, Gegenkommer ebenso wenig. Und unruhig drehe ich mich immer wieder auf meinem Sitz nach hinten um, um zu sehen, ob da nicht einer um die Ecke prescht.

Je näher wir Paris kommen, um so hektischer wird der Berufsverkehr. Wir laufen in die Seine ein. Viel Platz nach rechts und links, kein schönes Panorama, nur Verladekais, Kies- und Sandverladestellen, wo ich alle die Dampfer, die mich heute schon überholt haben, liegen sehe. Die Krane an Land versenken geschäftig die Greifer in ihren Laderäumen. Morgen früh werden sie wieder auf die Hetzjagd die Marne aufwärts gehen.

Foto: Linde, wasserdicht verpackt

Eine noch unbekannte Nonnentracht? Nein, sondern meine Frau Linde, wasserdicht eingepackt. Denn es regnet gerade wieder einmal.

Ich kenne Paris eigentlich ganz gut. Ich habe hier eine Zeit lang gelebt, konkret da, wo der Hafen «Arsenal» ist. Aber ich habe natürlich nie wahrgenommen, dass man da durch eine hundsgemeine Schleuse einfährt. Ich habe Glück: ich erkenne sie rechtzeitig am rechten Ufer und melde mich per Funk an. «Zehn Minuten», sagt mir der Schleusenwärter. Zu kurz, um anzulegen, aber reichlich Zeit, um mich zu zwingen, mit allen Tricks mein Boot gegen die Strömung vor der Schleuse zu halten. Endlich grünes Licht. Und auf Backbord sogar Schwimmpoller, wie mir ein französischer Stegnachbar im letzten Hafen an der Marne verraten hat.

Mein Anlegemanöver am Gästesteg ist miserabel. Ich bin einfach zu müde. Der Hafenmeister weist mir eine Box zu, in die ich nicht reinpasse. Nicht mal, wenn ich den Bauch einziehe. Er sieht es ein und nennt mir per Funk einen anderen Platz. Wir sind da. Ende des ersten Abschnitts meiner Reise.

Paris ist eine Messe wert – der Hafen an der Bastille verdient deren drei

Foto: Linde, wasserdicht verpackt

Arsenal, der Yachthafen von Paris. Eine Idylle inmitten des Lärms der Großstadt, und dabei unmittelbar am Verkehrsknotenpunkt der Place de la Bastille.

Das Liegen im Arsenal ist luxuriös, aber auch ziemlich teuer. Knapp 30 Euro pro Nacht für ein Boot wie «Projekt zwei».

Dafür liegt man mitten in der Stadt, direkt unter dem Verkehrskreisel der Bastille, in Hörweite der neuen Oper, Waschmaschine und Trockner, Dusche und WC in 30 Meter Entfernung, nachts beschützt von Wächtern mit scharfen Hunden, abgeschirmt von den Menschen, die der neue Präsident Nicolas Sarkozy mit dem Kärcher in den Gully spülen will.

Foto: Canal Saint Martin

Arsenal, das ist nicht nur der Yachthafen, sondern auch der Beginn des Canal Saint Martin, der (links im Hintergrund des Fotos) unterirdisch die Place de la Bastille quert und die nördlichen Randbezirke der Stadt an das Wasserstraßennetz anbindet.

Diese «Sans-Papiers», Elendsflüchtlinge aus den ehemaligen Kolonien, vegetieren einige hundert Meter weiter in Zelten am Kanal. Wir heben die Räder von Bord und machen uns daran, einen Teil von Paris zu erkunden, den wir beide noch nicht kennen. Fahrrad fahren in Paris? Vor Jahren noch hätte ich das als gewaltiges Abenteuer betrachtet. Doch inzwischen gibt es überall abgetrennte Radwege, es macht geradezu Spaß, über die Boulevards zu düsen und schneller zu sein als jedes Auto.

Nach drei Tagen bringe ich Linde zur Gare du Nord, wo sie in den Hochgeschwindigkeitszug Thalys steigt. In weniger als fünf Stunden wird sie zu Hause in Düsseldorf sein. Ich habe von Düsseldorf nach Paris genau 30 Tage gebraucht.

Foto: Seinebruecken in Paris

Paris, unter den Brücken der Seine. Nicht anders als in den Straßen der Metropole tobt auch auf dem Strom der Bär. Güterschiffe, Privatyachten und vor allem die «bateaux mouches», die Seightseeing-Dampfer, liefern sich einen gnadenlosen Kampf um die Poleposition vor den Brückenpfeilern.

Die Seine ist oberhalb von Paris noch ein gutes Stück mit Güterschiffen der 135-Meter-Klasse zu befahren. Die Schleusen sind riesig und verfügen oft über zwei Kammern. Die Kapitäne sind hier genau so eilig und brutal wie auf der Marne. Und natürlich haben sie an der Schleuse die Vorfahrt.

Einmal liege ich vor einer Schleuse, bei der eine Kammer außer Betrieb ist. Da staut sich der Verkehr. Die Talfahrer sind gerade an der Reihe, vor mir liegen schon drei Güterschiffe, ich rechne mir eine Chance aus, mit diesen in die Schleuse einlaufen zu dürfen. Aber da kommt von achtern ein weiterer Frachter mit voller Kraft voraus. Nichts da für mich. Ich muss zurückstecken, mich weitere 40 Minuten mit der Maschine halten. Denn die Dalben sind für mein Schiff viel zu weit auseinander, festmachen ist also unmöglich.

Über Nacht liege ich an der Mole von Samois, durch eine kleine Insel geschützt vor dem Schwall durch die Berufsschifffahrt. Die Pumpe meines WC ist kaputt. Mühsam baue ich sie aus. Eine totale Fehlkonstruktion. Manches Mal wundere ich mich über die Gedankenlosigkeit von Herstellern. Oder ist es Frechheit? Ich habe eine Idee, wie ich das Ding dauerhaft, sozusagen für die Ewigkeit, reparieren kann. Das entsprechende Werkzeug habe ich, sogar passende Niroschrauben. Nur leider keine Schraubenmuttern. Aber in sieben Kilometern Entfernung liegt die Stadt Fontainebleau mit ihrem berühmten Schloss. Da sollte es doch wohl einen Baumarkt geben. Und nach Fontainebleau wollte ich so und so.

Es ist wieder mal lausig kalt und ein starker Wind pfeift mir von vorne um die Ohren, als ich auf mein Rad steige. Fontainebleau hat keinen Baumarkt, muss ich mir sagen lassen. Ich breche fast in Tränen aus. «Aber», beruhigt mich der junge Mann, «in zwei Kilometern kommen sie zu dem Supermarkt Carrefour, vielleicht kriegen sie ja da ihre Muttern». Tatsächlich hat Carrefour eine Gasse mit Heimwerkerartikeln. Sekundenkleber, Tesafilm, Pinsel, Wäscheleine. Und da hängt ein kleines Plastikdöschen mit Schräubchen und genau den kleinen Muttern, die ich suche.

Ich bin zu erschöpft, um jetzt noch zum Schloss zu fahren. Gesehen habe ich es eh schon, vor unendlich vielen Jahren. Also durch die Kälte zurück zum Boot und an die Arbeit. Meine Klopumpe funktioniert wieder und ich frage mich wirklich, warum der Hersteller nicht selbst auf die Idee kam, die mir die Not eingegeben hat.

Am Grab von Django ­ dem King der Zigeunerjazzgitarre

Foto: Grab von Django Reinhardt in Samois

Samois-sur-Seine ist ein typisches französisches Kleinst-Städtchen. Man würde es bald wieder vergessen. Aber hier liegt der unvergessenen Jazz-Gitarrist Django Reinhardt begraben. Und so merkt man sich diesen Namen doch: Samois

In meinem Navigationsbuch für die obere Seine lese ich, dass hier, in diesem gottverlassenen kleinen Ort Samois, das Grab von Django Reinhardt ist. Das elektrisiert mich. Django, das war der Gitarrengott meiner Jugend, das Idol, dem ich auf der Gitarre zustrebte, ohne ihn je auch nur entfernt zu erreichen. Django, sein Geiger Stéphane Grapelli, der Hotclub de France, daran habe ich ein Leben lang den Jazz gemessen.

Das Grab zu besuchen schien mir eine selbstverständliche Reverenz vor dem großen Künstler. So wie ich mich einst auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris vor Edith Piaf verneigt hatte. Samois hat zwar diesen wunderschönen Kai und einige Häuser entlang des Flusses, liegt aber ganz steil oben auf dem Berg. Ich muss mein Rad lange schieben und komme etwas außer Atem in die Bäckerei. «Der Friedhof? Ganz nahe von hier», die Bäckersfrau beschreibt mir den Weg.

Der Friedhof ist nicht groß und ich habe keine Mühe, «mein» Grab zu finden. Fast frische Blumen, einige Votivtafeln, das plötzliche Gefühl, dass ich zu einer großen Familie von Verehrern des genialen Musikers gehöre. Wir kennen uns nicht, wir sind nur dadurch verbunden, dass wir die Stücke von Django vor unseren inneren Ohren hören können.

Mir fällt plötzlich ein, dass ich vor Monaten zufällig in Paris in der Gegend von Montparnasse in ein klitzekleines Jazzlokal geraten war, wo drei großartige Musiker genau diese Musik gespielt haben. Einige Zuhörer, sie waren alle in meinem Alter, haben mitgesummt und dabei verdächtig feuchte Augen gehabt. Bei mir muss das vom Zigarettenrauch gekommen sein.

Bei Saint Mammès biege ich ab in den Canal du Loing. Ab hier wird es wieder gemütlich. Keine Großschifffahrt mehr, fast keine Penichen, höchstens solche, die zu Hotelschiffen umgebaut wurden, die Schleusen sind wieder nur 39 Meter lang und 5,1 Meter breit.

Foto: Moret sur Loing

Moret-sur-Loing. Neben dem pitoresken Innenstadtbereich ist es vor allem die Mündung der Loing in den Kanal, die den Charme dieses Kleinstädtchens ausmacht.

Morgen ist der 14. Juli, Nationalfeiertag. Es scheint mir wenig sinnvoll, diesen Tag irgendwo einsam am Ufer liegend zu verbringen. Also ran an den Schwimmsteg von Moret-sur-Loing. Moiret, das ist wie Rothenburg ob der Tauber auf Französisch. Stadtmauern, Stadttore, riesige uralte Kirche, alte Gemälde und Skulpturen, historisches Rathaus, Fachwerkhäuser, gemauerte Brücke mit Waschhaus am Fluss, das ganze Programm. Nur: Frankreich hat tausende solcher Orte. Und da, wo wir Kirchen haben, sollte man sich hier nicht genieren, von Kathedralen zu reden. Denkmalschützer müssten dabei auf die Idee kommen, ganz Frankreich mit einer Folie zu überziehen und einzufrieren, um das alles zu erhalten.

Rogny-les-Sept-Écluses ist eigentlich ein bedeutungsloses Nest am Kanal. Die Mole ist dicht besetzt von englischen und holländischen Riesenschiffen (in der Regel umgebaute uralte Frachtschiffe), die meist wochen- oder monatelang irgendwo liegen, bevor sie die nächste Tagesreise antreten.

Obwohl ich diese Skipper als Menschen mit ihrer besonderen Lebenseinstellung sehr schätzen gelernt habe, hat es mich manchmal doch geärgert, dass sie mit ihren 38-Meter-Schiffen immer die besten Liegeplätze okkupieren und uns anderen Reisenden eigentlich keinen Platz mit Strom und Wasser lassen. Aber davon will ich im Zusammenhang mit Rogny eigentlich nicht erzählen.

Die sieben Schleusen: ein ästhetisch-technisches Wunderwerk

Foto: Die Sieben Schleusen bei Rognyles-sept-écluses

Hier ging es früher geradeaus den Berg hinauf! Rognyles-sept-écluses, eine architektonische Glanzleistung des frühen 17. Jahrhunderts, vor der man sich ehrfürchtig verneigt.

Vielmehr geht es um die «sept écluses»", die sieben Schleusen. Ich stehe mit offenem Mund vor diesem Wunder. Da hat ein König im frühen 17. Jahrhundert, Henri IV, ein Bauwerk befohlen, das auf mich wie ein Sakralbau wirkt. Nach der ersten Verblüffung komme ich darauf: die Schleusentreppe einen veritablen Berg hinauf erinnert mich an eine gigantische Tempelanlage, die ich mal auf Bali Stufe um Stufe hoch geklettert bin. Man muss sich vorstellen: sieben Kammern, eine in die andere mündend, jede über vier Meter hoch, bis zum Horizont. Kein Wunder, dass auf dem Busparkplatz dichtes Gedränge herrscht. Heute allerdings umfährt man diese Treppe auf einer weniger eindruckvollen Strecke mit nur vier Schleusen. Sie ist allerdings auch schon älteren Datums; rund 150 Jahre alt.

Vor mir an der Spundwand in Ouzouer liegt ein luxuriöses Hotelschiff. 38,50 Meter lang, 5,10 Meter breit, genau die Maße, die in die französischen Schleusen passen. Wir, der Kapitän und ich, kennen uns seit gestern, als ich ihm in Rogny-les-Sept Écluses beim Anlegen half. Ich lag noch in den Federn, als er heute morgen die Schleusentreppe hinüber nach Ouzouer in Angriff nahm. Ich wusste, dass das unendlich langsam vonstatten gehen würde und habe nach dem Frühstück erst noch eine Runde durch den Ort gedreht. Nun liegt er also wieder da, vor mir. Und davor einige Schleusen.

Seine Gäste, alle Engländer, spielen Boule auf dem kleinen Platz neben dem Kai. Das Personal hat eine Bar aufgebaut. Champagner, Kanapees, kleine Köstlichkeiten. Auf dem Grill schmoren Lammkoteletts. Ich schüttle den Kopf, als mir der Kapitän in Zeichensprache signalisiert, dass ich mitmachen könne. Diese Reichen, die zu acht drei Personen Personal und ein riesiges Schiff mit höchstem Komfort bezahlen, sind aus einer anderen Welt. Wir haben nichts gemeinsam.

Über Nacht schlägt das Wetter wieder mal um. Es regnet. «Du kannst vor mir in die erste Schleuse fahren, wir bleiben wegen des Regens noch etwas hier», sagt mir der Kapitän, als ich morgens frierend an Deck klettere. «Aber du solltest um 9.20 Uhr dort sein, für diese Zeit habe ich den Schleusenwärter bestellt».

Das war der erste Morgen meiner Reise ohne frisches Brot. Cepoy ist eines jener kleinen, halbverlassenen Dörfer, die man gleich wieder vergisst. Ich liege im Regen am Ufer unterhalb der Schleuse an meinen drei soliden Grasankern. Da kommt ein kleines Segelbötchen, etwa sieben Meter lang, mit irischer Flagge. Das schlechte Wetter scheint das Pärchen nicht zu stören, kichernd und bester Laune fahren sie erst mal an mir vorbei, drehen und legen hinter mir an – ausgerechnet an der ungeeignetsten Stelle, die es hier gibt. Ich beeile mich, dabei zu helfen. «Sie kommen von weit her und leben noch», denke ich mir, «die Flussgötter sind ihnen wohl gesonnen».

Am nächsten Morgen sind sie früher aus den Federn als ich, nein, sie verzichten darauf, ins Dorf zum Bäcker zu gehen, und warten schon vor der Schleuse. Ich stelle mich hinter ihnen auf, und als das Signal auf grün wechselt, kupple ich ein. Und gleich wieder aus. Das Pärchen findet den Eingang in die Schleuse nicht. Nach drei Anläufen sind sie drin. Aber genau in der Mitte, rechts und links zu weit weg von den Leitern und vor allem von der blauen Stange, mit der die Schleusung in Gang gesetzt wird. Sie fischt an Backbord mit dem Enterhaken nach einer Leitersprosse, er versucht an Steuerbord mit seiner Gaffel das Boot zu ihr hin zu drücken. Und dass ich hinter ihnen kaum noch Platz habe, merken sie dabei überhaupt nicht. Irgendwann schaffen sie es. Das Schauspiel wiederholt sich bei der nächsten Schleuse.

Foto: Stichkanal bei Briare

Ein Stichkanal verbindet den Loire-Kanal mit dem Städtchen Briare. Der Abstecher lohnt sich, und sei es, weil man in Briare tanken kann. Das ist auf den Flüssen und Kanälen nicht selbstverständlich.

Ich komme ins Grübeln. Überholen geht nicht, dazu sind die Distanzen von Schleuse zu Schleuse zu kurz, hinter diesen fröhlichen Menschen bleiben geht auch nicht. Jeweils 45 Minuten ihren Bemühungen zuzuschauen übersteigt meinen Humor. Also anlegen und eine ausgiebige Siesta halten.

Am späten Nachmittag geraten sie wieder in mein Blickfeld. Sie nehmen gerade wieder den zweiten (dritten, vierten?) Anlauf auf eine Schleuse. Aber da stört es mich schon nicht mehr, denn ich will hinter dieser Schleuse anlegen und über Nacht bleiben.

In Briare liege ich hinter einem wunderschönen englischen Boot mit fünf Leuten. Ich kenne sie sozusagen seit Tagen. Sie waren immer wieder mal vor mir und haben meine Geduld in Anspruch genommen, wenn sie wieder mal nicht ohne langes Hin und Her in eine Schleuse rein kamen und dann unendlich lange brauchten, bis sie ihr Schiff mit Leinen und Enterhaken gesichert hatten. Die Lady steigt von Bord und zeigt mit dem Finger auf eine Schramme an meinem Bug. «Oh, what a pitty», sagt sie entsetzt. «Ach ja», sage ich ihr, «das trage ich mit Fassung». Und ich denke, dass ich mir zwar an einem Nagel in einer Planke an irgendeiner Mole einen Kratzer eingefangen habe, aber trotzdem besser klar komme als dieses Quintett.

Briare war ansonsten ein schöner Ort und eine weitere Gelegenheit, Diesel zu tanken. Dieses Mal ganz legalen «weißen» Kraftstoff.

Kratzer im Rumpf stören mich nicht

Trotzdem denke ich über den Kratzer in meinem Schiff nach. Ich bin allein an Bord, ich kann nicht gleichzeitig überall sein. Die letzten Schleusen waren schon so, dass meine spärlichen Fender (drei auf jeder Seite) nicht ausreichten. Hinzu kommt, dass hier die Schleusen im gefüllten Zustand manchmal nicht mehr als drei Finger Freibord haben. Da würden selbst zehn Fender nichts helfen, weil sie alle nutzlos über den Schleusenrand an Land schwimmen. Und dann gibt es hier Schleusen, die Spundwände haben. Da drücken sich die Fender in die Vertiefungen und verlieren fast völlig ihre Wirksamkeit. Also: keine weitere Rücksicht mehr auf Kratzer im Rumpf. Das Schiff muss eh irgendwann neu lackiert werden.

Wie viele Kathedralen hat dieses Land? La Charité-sur-Loire

Im übrigen kam ich später in eine Situation, wo die Naturgewalten dafür sorgten, dass mein Rumpf elend verschrammt wurde. Ich liege vor einem hässlichen, gigantisch großen Getreidesilo (irgendwann kam mir der Gedanke, dass das die Kathedralen der Neuzeit sind) an einer schrägen Wand aus ganz rauhen Natursteinen. Genau das, was ein Knickspanter besonders schätzt. Aber es gab nichts anderes.

Foto: Kran birgt Boot

Anglerglück. Der Kranwagen hat sich den Rohbau eines zukünftigen Charterboots gefischt. Der wird jetzt über Winter zum fertigen Boot ausgebaut.

Aber diesen Ort wollte ich unbedingt sehen. Schon wegen seiner Kathedrale. Sie war mal riesig, mit Platz für 5.000 Gläubige, eine der größten Kirchen der christlichen Welt. Was heute noch da ist, würde man bei uns in einem Atemzug mit dem Kölner Dom und dem Ulmer Münster nennen. Riesig, atemberaubend, feierlich, mystisch, architektonisch überwältigend. Man muss kein Christ sein, um ehrfürchtig staunend in dieser Kirche zu stehen. Aber auch Frankreich hatte seine kleinen eifer- und machtsüchtigen Kriege, seine Überfälle von Normannen und Sarazenen und seine Bilderstürmer in der Großen Revolution. So blieb von diesem gigantischen Bauwerk nur dieser kleine Rest, der immer noch in seinen Dimensionen beeindruckt. Eine französische Regierung aus jüngerer Zeit soll übrigens einmal geplant haben, eine Autobahn zu bauen, die genau durch das Hauptschiff geführt hätte. Vielleicht ist es so, dass Nationen, die mit Kulturgütern höchsten Wertes überreich gesegnet sind, diese Werte nicht mehr angemessen schätzen können.

Bei le Guétin steht eine Doppelschleuse an. Das heißt, dass man beim Bergschleusen unten in einen Trog einfährt und aus dem oberen Tor sofort im nächsten Trog ist. Gesamthöhendifferenz 9,20 Meter.

Foto: Kanalbruecke ueber den Allier bei Guetin

Die Kanalbrücke über den Fluss Allier bei Guétin. Eines der Wunderwerke der Technik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Ich habe Pech. Vor mir läuft ein großes Charterboot mit sechs Engländern ein, die absolut nicht nach vorn wollen. Und dann wartet der Schleusenwärter ein weiteres großes Charterboot ab, das hinter mir einläuft. Da sind junge, ausgelassene Franzosen drauf. Ich bin eingeklemmt wie eine Currywurst im Brötchen. Die Leute vor mir kümmern sich nur angstvoll darum, dass sie nicht mit dem Bug anrempeln und halten sich lieber einige Meter vor dem vorderen Tor, die Leute hinter mir sind beschäftigt mit Fotografieren. Dass ihr Bug immer wieder gegen meine Badeleiter dötzt, merken sie gar nicht mal. Und im Notfall bezahlt das eh die Versicherung. Ich selbst stehe am Ruder, kurzer Schlag zurück, kurzer Schlag vor, verzweifelt suche ich gleiche Distanz zu beiden zu halten.

Direkt nach diesen nervenden Schleusen geht es in den Trog der Kanalbrücke über den Fluss Allier. Schmal wie die Schleusen zuvor. Und natürlich vor mir die englischen Charterer und hinter mir die Franzosen. Da rattern ohne Unterlass die Bugstrahlruder...

Pi mal Schnauze oder der Zwölf-Meter-Hund

In ungezählten Häfen habe ich neugierig den Stegnachbarn bei ihrem Tun zugeschaut. Es war dies keine Form der Indiskretion, sondern das Bemühen, an ihren Beispielen zu lernen.

Dabei habe ich ganz zufällig eines der ewigen Rätsel der Menschheit gelöst: die inhaltliche Ausgestaltung der Formel «Pi mal Schnauze». Entgegen aller üblichen Mathematik ist dabei Pi nicht die Konstante, sondern die Variable in Gestalt eines Hundes. Nehmen wir einen Pudel, einen Spaniel, einen Labrador oder Deutschen Schäferhund. Dieser Hund, multipliziert mit dem Faktor «Schnauze», ergibt die Länge des Schiffes seines Eigners.

Das Schiff eines Pudels, der seinen Eigner auf dem Ponton Gassi führt, ist nach diesen Berechnungen im Mittel 9,55 Meter lang. Ein Scotch Terrier bringt es auf 10,80 Meter und ein Golden Retriever oder Labrador auf beeindruckende 12 Meter. Der Deutsche Schäfer ist so zu sagen Eigner von rund 14 Metern.

Aber das konnte ich nicht genauer berechnen, dazu gab es zu wenige dieser großen Kähne. Beeindruckend war die Zahl der Zwölf-Meter-Hunde, sie stellten das mit Abstand größte Kontingent dar.

In Nevers beginnt ein neues Leben

Am Nachmittag komme ich in Nevers an, dem vereinbarten Treffpunkt mit einem befreundeten Paar aus Hamburg und erneut Linde, meiner Frau.

Der überaus nette Hafenkapitän schlägt mir einen Liegeplatz vor, den ich selbst nie im Leben in Erwägung gezogen hätte. Um drei Ecken, eingequetscht zwischen zahlreichen anderen Booten. Aber tapfer nicke ich und gehe an die Arbeit. Und tatsächlich, ich fahre rückwärts in diese Box, als hätte ich das schon tausend Mal gemacht. Der Hafenkapitän sagt anerkennend «perfekt» und ich nicke und tue so, als sei das doch das Leichteste auf der Welt.

Foto: Schleuse bei Nevers

Kaum zu glauben: Sommerwetter. Und vor uns, wie so oft, eine Schleuse, aus der die Charterboote heraus mäandern.

Aber natürlich bin ich ganz schön stolz auf mich. In der Tat, ich kann jetzt schon einiges. Ich bin seit 50 Tagen unterwegs, habe 220 Schleusen durchfahren und fange an, mich als erfahrenen Skipper zu fühlen. Dass an Erfahrung noch einiges fehlt, werde ich dann später demütig registrieren.

Linde, Sabine und Klaus kommen an Bord. Seit Tagen freue ich mich auf diese neue Konstellation. Immerhin hatten wir in dieser Besetzung vor Jahren schon mal auf diesem Kanal gemeinsam ein Charterboot gemietet und würden uns an vieles erinnern. Hinzu kam, dass Klaus alle Bootsführerscheine und als Steuermann Erfahrung hat. Er würde mich ganz schön entlasten.

Sabine hatte leider gerade einen Unfall gehabt und war im Gebrauch des rechten Arms stark behindert. Alles kein Problem. Das Problem war eher ich selbst. Ich hatte Mühe, mich nach wochenlanger Alleinfahrt umzustellen, wieder Deutsch zu denken, Entscheidungen zu diskutieren und nicht wie bisher mit mir allein auszumachen. Ich bin leicht irritiert in den ersten Tagen.

Die Kanalbrücke von Digoin über die obere Loire

Foto: Hinweistafel an der Kanalbruecke ueber die Loire bei Digion

Eine Tafel weist darauf hin, dass die Kanalbrücke über die Loire bei Digoin fast 170 Jahre alt ist. Da darf man ja hoffen, dass unsere Stahlbetonbrücken 1.000 Jahre überdauern. Oder irre ich mich da?

Kurz vor Digoin wollen wir den Canal de Roanne hinauf. Erste Schleuse, zweite Schleuse, dritte Schleuse. «Wollen sie umdrehen oder weiterfahren?», fragt die Schleusenwärterin, ganz offensichtlich eine Studentin, die hier einen Ferienjob hat. «Nein, natürlich nicht umdrehen, sondern hoch bis Roanne», sage ich ihr. Sie nickt. Wie kann man nur so blöd sein, denke ich später, als klar ist, was sie uns nicht gesagt hat.

Der Kanal nach Roanne hat laut Navi-Karte eine Tiefe von 1,8 Metern. Reichlich für mein Boot. Also fahre ich mein übliches Tempo. Laut GPS so um die 10 km/h. Es tut einen Schlag. «Da hat jemand die Schiebetür zum Bad sehr heftig zu geschoben», denke ich. Noch ein Schlag. «Man kann die Tür zum Bad auch etwas leiser schieben», meine ich.

Foto: Kanalbruecke ueber die Loire bei Digion

Die Kanalbrücke von Digoin über die obere Loire. Was haben die Baumeister des 19. Jahrhunderts doch alles geleistet!

Dann wieder ein Schlag. Ganz dumpf. Leichte Irritation. Nochmals die Schiebetür zum Bad? Noch ein Schlag. Und die Erkenntnis, dass das was zu tun haben muss mit unserer Geschwindigkeit. Die verrosteten Spundwände geben mir keine Auskunft, die verrotteten hölzernen Uferbefestigungen auch nicht, das Echolot osziliert gleichmütig um einen Meter. Irgendetwas stimmt nicht. Ist der Kanal doch nicht so tief, wie auf der Karte angegeben?

Ich nehme die Fahrt zurück, pendle mich bei 7 km/h ein. Kein Schlag mehr. Wir fahren bis zu einem Ort, der eigentlich keiner ist. Eine Brücke über den Kanal, einige Bauerhöfe, eine ganz schmale Straße nach nirgendwo. Linde und Klaus stemmen die Räder an Land, wollen zum nächsten größeren Ort, um Brot zu kaufen und uns an der nächsten Schleuse wieder treffen.

Ein Dammbruch zwingt zur Umkehr

Foto: Canal de Roanne

Der Canal de Roanne. Wie ganz oft auf den Kanälen, reicht auch hier die Botanik fast bis zur Mitte des Kanalprofils.

Die Schleuse zeigt doppeltes Rot. Kein Schleusenwärter zu sehen. Nach einer Anstandsfrist drücke ich energisch auf die Hupe. Immer noch keine Bewegung da oben.

Schließlich lege ich an der Böschung an. Sabine stapft durch das nasse Gras nach oben und kommt nach zehn Minuten zurück. «Wenn ich richtig verstanden habe, ist die Schleuse geschlossen», ruft sie mir zu. Aber da kommt auch schon ein Herr mit dem Emblem von VNF (Voies Navigables de France), der nationalen Gewässerverwaltung, auf dem Pullover. «Die Schleuse ist seit acht Tagen geschlossen, weil oberhalb der Kanaldamm gebrochen ist, das wird mindestens noch 14 Tage so sein. Außerdem haben wir aus Wassermangel das Niveau auf dem Kanal um einen halben Meter senken müssen. Hat man ihnen das nicht weiter unten an der dritten Schleuse gesagt?», fragt er mich leicht irritiert.

Foto: Schleuse im Canal de Roanne

Auf dem Kanal von Digoin nach Roanne: Die Schleusentore werden hier noch mit Ketten bewegt. Waren also die Schleusenwärter Kettensträflinge?

Ich muss 500 Meter rückwärts, um drehen zu können und dann wieder ganz langsam den Kanal abwärts. Es war trotzdem eine wundervolle Fahrt – und zum Glück hatte diese Studentin an der dritten Schleuse heute keinen Dienst, sonst hätte ich es mir nicht verkneifen können, ihr etwas zu sagen.

Parray-le-Monial ist schon seit dem frühen Mittelalter eine wichtige Station auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Dazu passend hatte eine junge Frau hier eine Marienerscheinung, und seither ist Parray ein wichtiger Wallfahrtsort. Nicht so wichtig wie Fatima oder Lourdes, aber immerhin.

Foto: Uferbefestigung am Canal de Roanne

Güterschiffe fahren längst nicht mehr nach Roanne. Die Unterhaltungsarbeiten beschränken sich auf das Allernotwendigste. Entsprechend zernagt zeigt sich die Uferbefestigung.

Dieses Mal waren es um die 5.000 Katholiken aus Frankreich und ganz Europa, aus der ganzen Welt, wenn man die wenigen Exoten aus ganz fernen Ländern mitrechnet, die sich hier zu gemeinsamem Gebet zusammengefunden hatten. Und mitten drin wir. Tatsächlich lag unser Platz an der Mole direkt vor dem riesig großen Zeltpark der Pilger. Wir konnten Messen, Gebetsstunden und Singkreise von Bord verfolgen, als seien sie eigens für uns inszeniert. Es hat uns berührt, wie hier vor allem junge Familien mit ihren Kindern Christentum lebten, wie freundlich und stillfröhlich sie waren. Manche suchten das Gespräch mit uns.

Foto: Kloster Paray-le-Monial

Das Kloster des Wallfahrtortes Paray-le-Monial. Die ganze Düsternis des frühen Mittelalters.

Seltsam: Am zweiten Tag hatten wir das Bedürfnis, dieser heilen Welt zu entfliehen. War sie vielleicht zu heil? Ich habe nicht aufgepasst. Da hing doch gerade mitten über dem Kanal eine Strippe herunter. Also Maschine rückwärts, ran an das Seil. Es dauert drei Minuten und vor uns schwenkt eine Brücke hoch. Und gleich darauf noch eine. Wir sind angekommen in der alten Industriestadt Monceau-les-Mines. Nichts erinnert mehr an Eisen und Kohle. Der alte Industriehafen für die lächerlich kleinen Transportschiffe, die mit Pferden und Ochsen getreidelt wurden, existiert nur noch auf alten Lithographien.

Linde ist krank. Sonnenstich oder Hitzeschlag. Ich schildere einem Apotheker die Symptome, die Pillen helfen tatsächlich.

Der Staat tut viel für uns Sportschiffer – sein Personal noch mehr

Foto: Anlegestelle am Loire-Kanal

Eine der klitzekleinen Anlegestellen am Loire-Kanal. Aber es gibt hier sogar morgens Brot!

Die meisten Kanäle in Frankreich, zumindest jene mit den im 19. Jahrhundert auf 38,50 mal 5,10 Metern Schleusenmaß festgelegten Dimensionen, werden fast ausschließlich von Privatschiffen und Charterbooten befahren. Beide bezahlen zwar eine nach Zeit und Schiffsgröße gestaffelte Vignette (Maut), aber das ist im Grunde ein lächerlicher Betrag. Ich selbst zahlte für vier Monate gerade mal 210 Euro. Kann man da erwarten, dass der Staat viel tut für diese kleine elitäre Minderheit? Nein. Er tut trotzdem unglaublich viel – und dennoch viel zu wenig. Viele Schleusen sind in lamentablem Zustand, das Personal, einstmals ein Schleusenwärter pro Schleuse, wird darüber hinaus zunehmend ersetzt durch eine anfällige Technik.

Dennoch: Ich bin dankbar dafür, dass ich dieses Wasserstraßensystem für so wenig Geld nutzen darf – und dafür, dass sich das Personal der VNF so selbstlos und freundlich darum kümmert, dass wir Wasserwanderer trotz aller Unzulänglichkeiten so komfortabel voran kommen.

Wir fahren ein in die automatisierte Schleuse 6 auf dem Canal du Centre, zu Tal. Ich lege an Steuerbord an, betätige die Stange, um die Schleusung in Gang zu setzen. Alles ok bis zu dem Moment, wo sich das linke untere Tor nur bis zur Hälfte öffnet. Per Interfon verständige ich die Zentrale. «Oui, on s`occupe», höre ich. Man kümmert sich.

Foto: Anlegestelle am Loire-Kanal

Rund 150 Jahre haben am Mauerwerk der Schleusen genagt. Ein Wunder, dass sie noch halten.

Tatsächlich dauert es nicht mehr als 20 Minuten, bis ein Schleusenwärter von weither mit seinem Dienstwagen herangebraust kommt. Fast im Laufschritt verschwindet er im Häuschen mit den technischen Einrichtungen. Das Tor geht zu, das andere auch. Wir steigen wieder auf. Und wieder ab. Aber das linke Tor geht wieder nur zur Hälfte auf. Unser Helfer telefoniert hektisch. Neuer Versuch, gleiches Resultat. «Jetzt rufe ich meinen Chef an», sagt er mir und es klingt wie eine Drohung. Der Chef kommt und bringt gleich drei Helfer mit. Wieder werden wir wie im Fahrstuhl hoch und runter gefahren. Aber das Tor will und will nicht ganz aufgehen.

Schließlich steigt ein Mitarbeiter in Taucherausrüstung hinab. Er fördert fast triumphierend ein armlanges Stück Eisen zu Tage, das da irgendwo unten abgebrochen ist. Der Beweis ist erbracht: die Schleuse kann ohne diesen Hebel nicht aufmachen. Schließlich schlingen die Männer ein Tau um den Kopf des Tores und zerren es in gemeinsamer Anstrengung auf. Wir können, nach zwei ungeplanten Stunden Mittagspause, auslaufen.

Foto: Gusseiserne Mechanik der Schleuse

Gußeiserne Mechanik, mindestens 150 Jahre alt. And still going strong.

Tage später höre ich von einem Stegnachbarn, dass die Schleuse immer noch per Seilzug gefahren wird. Da stehen also drei oder vier Mann und warten auf die maximal 20 Boote, die hier pro Tag geschleust werden. Hochachtung!

Eine letzte Schleuse mit riesigem Hub trennt uns von der Saône. Wir kommen nach Chalon-sur Saône. Der Yachthafen hinter der Insel im Fluss ist proppenvoll, wir kreisen um die Insel und finden keinen Liegeplatz. Schließlich legen wir in unserer Not genau vor dem Yachthafen am Ufer an, schräge, gemauerte, halb kaputte Wand. Wieder mal genau richtig für unser Unterwasserschiff.

Foto: Gusseiserne Mechanik der Schleuse

Letzte Schleuse auf dem Canal du Centre vor der Einfahrt in die Saône. Hier geht es mehr als zehn Meter abwärts.

Wir machen einen ersten Erkundungsgang über die Brücke ins Zentrum. Als wir zurückkommen, hat sich gerade ein altes, rostiges Hotelschiff im Päckchen an uns gelegt. Wir sind sozusagen sein Fender. Ich beschwere mich beim Kapitän, er antwortet mit leisem Bedauern, dass dies der einzige Platz sei, wo er morgen früh Diesel per Tankwagen übernehmen könne. Zähneknirschend finde ich mich damit ab.

Linde steigt in den Zug und fährt über Paris nach Hause. Ich werde wieder für Wochen allein an Bord sein. Das Wetter synchronisiert sich mit meiner trüben Stimmung. Es regnet, regnet, regnet. Ich finde schließlich im Yachthafen einen Liegeplatz, an der Außenseite des Schwimmstegs. Hauptsache, ich liege, habe elektrischen Strom und muss nicht um mein Unterwasserschiff bangen.

Foto: Altstadt von Chalon sur Saône

Die Innenstadt von Chalon-sur-Saône mit ihren mittelalterlichen Fachwerkhäusern. Der Regen nimmt gerade einen neuen Anlauf.

Der Regen hört nicht auf. Ich mache mit Bleistift und Zollstock Marken in Ein-Meter-Abstand an den Dalben, weil ich das Gefühl habe, dass der Fluss steigt. Richtig, er steigt heftig. Der Hafenmeister lässt die Zapfsäulen für Diesel und Benzin abbauen, weil er aus dem Internet schon weiß, dass die Flut kommt. «Die Leute von VNF hätten längst eine Warnung herausgeben müssen», erklärt er mir voller Unverständnis für diese Schlafmützigkeit.

Der Regen hört nicht auf – die Saône steigt unaufhörlich

Foto: Treibgut

Das Treibgut umgibt mein Boot wie eine Insel ­ ich kann darauf stehen!

Gegen Abend rummst es zum ersten Mal an meinem Rumpf. Ein riesiger Baumstamm schrammt gegen meinen Bug und kratzt dann eilig an der ganzen Backbordseite entlang. Der dumpfe Knall von antreibenden Bäumen und das Schaben entlang der Bordwand begleiten mich die ganze Nacht und die nächsten Tage. Es regnet ohne Unterbrechung, der Fluss steigt und steigt. Meine Marken auf der Dalbe verschwinden bald.

Und mit dem Wasser kommt noch mehr Treibgut. Telegrafenmasten, Bäume, Holz in jeder Form. Dazwischen Fernseher, Fässer, Flaschen, ein Kühlschrank, alles, was schwimmt und von irgend jemand irgendwo in Ufernähe geflissentlich vergessen, abgelegt, gestapelt wurde. Ich liege so, dass das ganze Zeug genau vor meinem Bug in die Lücke zu dem schweizerischen Segler George vor mir gedrückt wird. Ich lege weitere Leinen, weil ich fürchten muss, dass meine Festmacher diesen Druck nicht werden aushalten können.

Die starke Strömung sorgt dafür, dass sich die schweren Holzstämme zum Teil unter meinem Boot und dem von George verkeilen, ich habe das Gefühl, immer höher aus dem Wasser zu kommen. Am zweiten Tag des Hochwassers kann ich fast vollständig zu Fuß um meinen Rumpf wandern. So sehr hat sich das Treibgut verdichtet.

Foto: Treibgut

Um das Boot frei zu bekommen, haben wir viel zu tun. Denn unter dem Kleinzeug verstecken sich die großen Bäume

Didier, der Hafenmeister, wird aktiv. Er verfügt über eine 10-Meter-Barkasse mit zwei Schrauben und gehörig Leistung. Mit seinen beiden Helfern versucht er, uns von unserer «Belagerung» zu befreien. Dabei knallt er einmal mit dem Heck donnernd an meine Bordwand. Fast der ganze Hafen läuft zusammen. Eine Beule, tiefe Kratzer im Lack, aber alles nicht so schlimm. Die Versicherung wird das regeln.

Am fünften Tag ist das Wasser so weit gefallen, dass ich weiterfahren will. Wieder kommt Didier eifrig mit seiner Barkasse und seinen Helfern. Und natürlich beteiligen sich alle Stegnachbarn. Baum um Baum ziehen wir unter dem Rumpf hervor. Aber da taucht dann immer noch einer auf. Ich habe etwas Angst um Ruder und Schraube. Didier bugsiert mich mitten in die Strömung. Ab hier, da sind wir uns einig, müssten Schraube und Ruder frei sein. Ich kupple ein und fahre los.

Foto: Barkasse im Treibgut

Der Hafenmeister von Chalon-sur-Saône versucht uns vom Treibgut zu befreien.

Mein nächstes Ziel ist die Seille, ein kleiner Fluss südlich von Tournus, auf knapp 40 Kilometern schiffbar, mit vier Schleusen, deren erste von einem Wärter bedient wird. Bei den anderen ist Selbstbedienung angesagt. Genau das, was ein Einhandfahrer immer schon einmal ausprobieren wollte.

Aber zunächst geht es gegen sehr starken Südwind auf die Saône hinaus. Erinnerungen an meine Unglücksfahrt in der Ägäis werden wach. Wellen mit brechenden Kämmen, gut einen Meter hoch. Mein Schiff stampft wie auf hoher See. Ich springe kurz nach unten und verschließe alle Luken und Fenster. Schon kippt mein Fahrrad um, kurze Zeit später das von Linde. Ich höre, wie in der Kombüse die Schublade mit den großen Töpfen und Pfannen krachend auffliegt, ein Wasserglas knallt auf den Boden, die Tür zur Bugkabine schwingt scheppernd vor und zurück.

Die Großschifffahrtschleuse oberhalb von Tournus ist geschlossen. Der Wasserstand ist immer noch so hoch, dass die Tore des Stauwehrs hochgefahren sind und die Schiffe ohne Gefahr über die ansonsten vorhandene Staustufe fahren können. Im Hafen von Tournus liegen die Boote dicht an dicht, teilweise im Päckchen. Keine Chance, hier anzulegen.

Ich fahre weiter und biege bei Kilometer 106 über Backbord in die Seille ein. In der ersten Schleuse werde ich noch komfortabel bedient. Und bei der zweiten habe ich das Glück, dass vor mir ein Charterboot mit vielen ausgelassenen Menschen einläuft. Zum ersten Mal bin ich richtig glücklich über Charterbootfahrer.

Das Wetter verschlechtert sich, es fängt wieder zu regnen an. An einem Ponton sozusagen mitten in der Pampa lege ich an. Ich frage einen Angler, wo ich hier Brot kaufen kann. In einem Ort sieben Kilometer weiter. Aber am nächsten Morgen regnet es immer noch und das Thermometer im Salon zeigt 12 Grad an. Das ist nun das zweite Mal, dass ich zum Frühstück den Brotrest von gestern aufschneide.

Ich fahre in dem nachlassenden Regen weiter und komme zur vierten Schleuse auf dem Weg nach dem Städtchen Louhans. Das untere Tor ist zu, so viel kann ich vom Unterwasser aus sehen. Also an einem schief im Wasser hängenden Ponton festmachen, durchs nasse Gras hoch zur Schleuse und an die Arbeit. Da kommen einige hundert Meter Fußweg und viel Kurbelei zusammen.

Als ich zurück zu meinem Boot stapfe, fährt ein Charterboot an mir vorbei, direkt in die geöffnete Schleuse, wie in ein vorgewärmtes Bett. Ich bin etwas verdutzt. Aber diese freundlichen Menschen haben einfach nur pragmatisch gehandelt. Sie schließen die Tore hinter mir und bieten an, mir im Oberwasser sofort Platz zum Überholen zu lassen.

Foto: Esstisch auf dem Achterdeck

Einer der wenigen Abende, an denen Linde und ich auf dem Achterdeck essen können. Eine Stunde später tobt der Himmel.

Als ich in Louhans ankomme, scheint die Sonne. Am nächsten Morgen regnet es wieder. Am Ende der Reise habe ich ausgerechnet, dass von meinen 105 Tagen an mehr als 50 schlechtes bis sehr schlechtes Wetter geherrscht hat. In meinem Logbuch lese ich, dass ich gelegentlich morgens 10 Grad im Schiff hatte. Kein schöner Sommer.

Louhans ist ein verschlafenes Provinznest, allenfalls Gourmets ein Begriff: von hier kommt das berühmte «poulet de Bresse». Ich beschließe, am nächsten Morgen zeitig wieder abzulegen. Die erste Schleuse ist geschlossen. Also beidrehen und anlegen gegen den Strom an einem kippeligen kleinen Ponton. Und wieder die Wanderung rund um die Schleuse. Bei der zweiten Schleuse das gleiche Bild. Aber hier erscheint ein älterer Herr, dem es Freude macht, mir zu helfen. Ich fahre den Fluss hinunter bis zum Hafen von La Truchère. Hoffnungslos überfüllt. Ganz offensichtlich trauen sich viele Skipper noch nicht auf die Saône, die ja immer noch etwas Hochwasser führt. Also drehe ich bei und lege oberhalb des Hafens am Ufer an.

Foto: Louhans an der Seille

Louhans an der Seille. Außer für seine ungezählten Arkaden ist das Städtchen bekannt durch das poulet de Bresse.

Am nächsten Morgen sitze ich fest. Denn auch die Seille hatte, was ich nicht wissen konnte, etwas Hochwasser, das über Nacht abgelaufen war. Vom Ufer her stemme ich mich mit der Schulter gegen die Reling, bis meine Nackenwirbel schmerzen. Nichts. Erst mal Pause und eine neue Pfeife. Dann klettere ich die Badeleiter runter und prüfe mit dem Enterhaken die Tiefe des Wassers unter der Schraube. Es reicht. Mit viel Geschaukel und voller Kraft rückwärts ziehe ich das Schiff vom Schlick. Wieder habe ich etwas gelernt. Zurück auf der Saône steht mir starker Strom entgegen. Mit erhöhter Drehzahl fahre ich dagegen an. Meine Heimreise hat begonnen.

Die Heimreise: fast immer gegen Kälte und Wind

Foto: Yachthafen von Verdun sur le Doubs

Der Yachthafen von Verdun sur le Doubs. Der freundliche Hafenmeister übernimmt sogar meinen Waschtag.

In Saint-Jean-de-Losne finde ich im vollbesetzten Hafen noch ein Plätzchen, in das ich mich kaum einzufahren traue. Wie soll ich da je wieder ohne fremde Hilfe rückwärts rauskommen? In Gedanken gehe ich das ganze mir zur Verfügung stehende Repertoire an Manövern durch und lege mir einen Plan zurecht. Am Morgen darauf komme ich aus meiner linken Ecke raus wie nix.

Der Chipchandler ist gut sortiert und ich kaufe mir zwei große Fender. Denn noch habe ich fast 200 Schleusen vor mir, die Investition lohnt also immer noch.

Foto: Morgenneben über der Saône

Die ersten Morgennebel über der Saône künden vom nahen Herbst. Aber hätte da nicht zuvor ein Sommer stattfinden müssen?

Zurück auf dem Fluss beobachte ich ein merkwürdiges Phänomen: ohne mein Zutun dreht die Maschine für einige Sekunden hoch und fällt dann wieder zurück auf die eingestellte Drehzahl. Ich habe Stunden lang Zeit, das Problem zu analysieren, denn anlegen kann ich hier nirgendwo – die Saône führt immer noch etwas Hochwasser. Mir wird klar, dass es Ölmangel im Getriebe sein muss, obwohl bei der täglichen Sichtkontrolle nichts zu sehen ist. Der innere Simmering scheint zu lecken. Abends fülle ich reichlich Getriebeöl nach, das Phänomen ist weg. Ab jetzt krieche ich so gut wie jeden Tag in die hintere Ecke des Maschinenraums und fülle Öl nach.


Ein Schlag im Maschinenraum und seine triviale Ursache

Foto: Tunnel von Saint Albin an der Saône

Muss man sich so den Eingang in den Hades vorstellen? Nein, hier geht es in den Tunnel von Saint Albin an der oberen Saône.

Zwei, drei Tage später starte ich morgens die Maschine und es tut einen dumpfen Schlag. Mir bleibt fast das Herz stehen. Ich rutsche auf den Knien im Maschinenraum umher, kann aber nichts finden. Neuer Versuch ­ und die Maschine läuft ohne zu mucken. Den ganzen restlichen Tag über sitze ich am Ruder und denke über diesen Schlag nach. Dann weiß ich, was das war.

Beim Wasserbunkern war mir schon mehrmals aufgefallen, dass irgendwann ein dumpfer Schlag aus den Eingeweiden des Bootes zu hören war. Da hat sich, das war mir bald klar, die Seitenwand eines der beiden Tanks unter dem Wasserdruck explosionsartig nach außen gebeult. Aber diese Delle muss ja, so die Überlegung, irgendwann wieder zurück springen, wenn der Wasserdruck nachlässt. Und genau an dieser kritischen Grenze reicht eine Erschütterung, um diesen Vorgang anzustoßen.

Damit war die Sache geklärt, und wenn es gelegentlich wieder im Keller explosionsartig knallte, wusste ich, was es war. Damit war aber auch klar, dass die vermeintlichen Zusammenstöße mit Treibgut aus der Vergangenheit auf das gleiche Phänomen zurückzuführen waren.

Foto: Tunnel von Saint Albin an der Saône

Der Tunnel von Saint Albin (680 m) an der oberen Saône hat keinen Treidelpfad. Dafür aber eine fortlaufende Kette auf einer Seite, an der sich früher die Schiffer von Hand mühsam ins Licht gezogen haben.

Das permanent schlechte Wetter macht mich langsam mürbe. Irgendwann muss ich mir eingestehen, dass ich eigentlich nur noch nach Hause will. So kommt es denn, dass ich mir manchmal für einen Tag zu viel vornehme. So stehe ich zum Beispiel zwischen Fontenoy und Girancourt am Vogesenkanal mehr als neun Stunden ununterbrochen am Ruder und bewältige dabei 35 Schleusen. Müdigkeit und Hunger sind abends so groß, dass ich nicht mehr in der Lage bin, wie üblich zu kochen. Der Rest Baguette vom Morgen, etwas Käse, Oliven, eine Dose Fisch, Rotwein und ab ins Bett.

An Girancourt habe ich keine Erinnerung. Ein Stichkanal von wenigen Kilometern Länge führt mich in die Vogesenstadt Epinal. Von der Kathedrale bin ich tief beeindruckt. Mein Gott, was hat dieses Land großartige Kirchen!

Laut Verabredung wollen meine Kölner Freunde Andrea und Lino auf der Rückreise von Spanien hier für einige Tage zusteigen. Per SMS haben sie mir am Morgen mitgeteilt, dass sie soeben in Pau abgefahren sind. Ich starte mein Notebook und lasse mir vom Routenprogramm zeigen, was das heißt: 1.100 Kilometer, zehn Stunden am Steuer – netto. Mir ist klar, dass das Mitternacht oder später bedeutet. Um 2.30 h sind sie da, nachdem sie mindestens eine halbe Stunde durch die menschenleere Stadt gekurvt sind, um den Hafen zu suchen.

Die beiden haben Glück. Die drei Tage bis Nancy, wo sie wieder aussteigen, sind fast so wie früher die Sommer waren. Und wir erleben in dieser Periode alles, was zu einer solchen Reise gehört: viele Schleusen, sogar eine Schleusentreppe über einen Höhenzug mit 19 dicht gestaffelten Schleusen zu Berg und zu Tal, die Begegnung mit einem Hotelschiff, das mich wie gewohnt in die Binsen scheucht, Charterboote auf verwegenem Zickzackkurs und englische Segler auf dem Weg in den Süden.

Und dann sogar das: eine richtige Peniche aus Belgien dampft an uns vorbei, als wir noch beim Frühstück sitzen. Schiet, denke ich, und erkläre meinen Freunden, dass wir jetzt erst mal eine Stunde ganz gemütlich am Frühstückstisch sitzen bleiben können. Trotzdem holen wir das Frachtschiff am frühen Nachmittag ein. Wieder eine Stunde Pause.

Und gegen Abend, kurz vor unserem Etappenziel, haben wir das Dickschiff wieder vor dem Bug. Von wo kommt es? Wo will es hin? Wie lange dauert seine Reise? Was hat es geladen? Schade, ich kam nicht auf die Idee, auf Kanal 10 und Kontakt aufzunehmen. Wahrscheinlich aber hatte der Kapitän sein Funkgerät genau so wenig in Betrieb wie ich. Hier auf den einsamen Kanälen gibt es nichts, was man mithören könnte, hier herrscht auch im Äther die große Stille.

Foto: hydraulische Schleusensteuerung

Die Technik ist eingezogen – vor vielen Jahren. Wo früher ein Schleusenwärter an den Kurbeln schuftete, macht das heute die Hydraulik, in Gang gesetzt von dem Tampen rechts unter dem Kasten. Ein Zug daran, Tore gehen auf und zu – oder auch nicht.

Nancy ist eine wundervolle Stadt, voller schöner Plätze, Straßen, Häuser. Auf der berühmten Place Stanislas war gerade so etwas wie eine regionale Messe. Stände mit Produkten Lothringens, Trachten, Musik, Pantomime, Kleinkunst. Dazwischen unendlich viel Volk, ganz Lothringen schien sich hier verabredet zu haben.

Das schlechte Wetter drückt mehr und mehr auf meine Laune

Das Wetter immer noch so, als wolle morgen der Sommer beginnen. Tut er nicht. Regenschwere Wolken, 10 Grad und scharfer Wind. Ich könnte heulen.

Wieder allein, mache ich mich auf die Reise über den Canal de la Marne au Rhin. Das Lothringische Hügelland ist hügelig. Wirklich hügelig. Eintönig, abwechslungslos, menschenleer. Meine beiden Handys sind verzweifelt auf Netzsuche. Ich bin dankbar, dass es im Hafen von Lagarde wenigstens Brot gibt.

Das Aufregendste ist da schon die Schleuse von Réchicourt, wo ich wie im Lift um 15,4 Meter nach oben gehoben werde. Wo versteckt sich eigentlich Gondrexange? Denn hier geht es über Backbord in den Canal des Houillères, den Saar-Kohlen-Kanal, heute schlicht nur noch «Saarkanal». Früher wurde hier saarländische Kohle transportiert, die es heute nicht mehr gibt.

Der Kanal wird ausschließlich von der Sportbootfahrt genutzt. Dafür hält der Staat eine beachtliche Dienstleistung vor. Praktisch ist es so, dass ein Schleusenwärter mit dem Auto neben dem Boot auf dem Treidelpfad herfährt und Schleuse um Schleuse von Hand bedient. Zumindest bei den ersten 15 Schleusen.

Spätestens nach der fünften Schleuse sind wir wie alte Freunde. Vor Schleuse 9 verabschieden wir uns für heute. Ich mache an der Spundwand fest und übernachte. Morgen früh um Punkt 9 werden wir uns wieder begrüßen und uns ausführlich darüber berichten, wie wir letzte Nacht geschlafen haben. Aber irgendwann geht uns der Gesprächsstoff aus. Was soll ich «meinem» ganz persönlichen Helfer noch erzählen? Womit könnte er sich revanchieren?

Wir werden etwas einsilbiger. Aber es reicht noch bis Schleuse 15, wo er mir wortreich den kleinen Funksender in die Hand drückt zur Bedienung der folgenden Schleusen bis Güdingen, der ersten Schleuse jenseits der Grenze zu Deutschland. Keine Frage, dass ich ihm ein dickes Trinkgeld in die offene Linke drücke.

Foto: Schleuse bei Rechicourt

Die Schleuse von Réchicourt. Bei einem Hub von 15,7 Metern ein Anflug von Klaustrophobie.

Eine Sache mit Symbolcharakter: Ich hatte mir vor Antritt meiner Reise auf der Bank 100 Euro in Ein-Euro-Stückelung geben lassen und diesen Fundus unterwegs immer wieder mal aus meiner Hosentasche aufgestockt. Trinkgeld für Schleusenwärter. Und als ich jetzt dem letzten Helfer in Frankreich zehn Münzen in den Handteller gleiten lasse, ist dieser Vorrat auch restlos aufgebraucht...

Sarreguemines, die letzte Schleuse in Frankreich. Vor mir hat gerade noch eine Yacht abgeschleust, ich drücke auf meinen kleinen Funksender, bekomme Rot-Grün, das Zeichen dafür, dass meine Schleusung in Vorbereitung ist, und dann Rot-Rot. «Schleuse gesperrt». Ich halte mich trotz des ungünstigen Windes in der Mitte des Kanals und warte. Warte. Maschine vorwärts, rückwärts, vorwärts, rückwärts. Dann kommt ein Schleusenwärter in seinem Dienstwagen. Er stochert mit einer langen Stange am halboffenen Tor herum, geht in das kleine Betriebsgebäude, kommt wieder raus, stochert.

Irgendwann lege ich dann doch an. Frankreich will mich offenbar nicht aus den Fingern lassen. Gerade jetzt, wo mir das Wetter und die Dauer meiner Reise nur noch eines erstrebenswert scheinen lassen: die schnellstmögliche Rückkehr in die Arme meiner Frau. Irgendwann resigniert der Mann von VNF. Er macht auf dem Treidelpfad neben mir halt und erklärt mir, dass er alles versucht habe. Jetzt müssten die Ingenieure ran, er habe schon über Funk Hilfe angefordert.

Ich schiele nach achtern, zu den Stegen des Yachthafens und bin fast schon bereit, meine Heimkehr um einen Tag zu verzögern. Da kommen gleich zwei Autos von VNF, die angeforderten Ingenieure. Fünf Minuten später bekomme ich Grün, ich kann in die Schleuse einfahren...

In Saarbrücken holt mich meine Geschichte ein

In Saarbrücken fahre ich völlig emotionslos ein. Ich habe hier viele Jahre gelebt, studiert und gearbeitet. Aber ich bin körperlich und auch ein wenig seelisch eingefroren. Meine Hände krampfen sich um das Steuerrad, ich drehe gegen den Strom auf, lege mich an die Spundwand vor dem Staatstheater.

Die Erinnerung kommt erst langsam. Daran zum Beispiel, dass ich schon als kleiner Junge von zehn Jahren hier ein Abonnement hatte, ein Beitrag meiner Großmutter zu meiner Menschwerdung. Daran, dass ich hier viel später als Theater-, Opern- und Konzertkritiker einen festen Sitzplatz hatte. Dass gleich um die Ecke die Moderne Galerie ist, deren Direktor mich regelmäßig zum Frühstück einlud, wofür ich mich mit engagierten Artikeln über die Ankaufspolitik des Landes bedankte. Was hinwiederum einen hohen Ministerialen veranlasste, mich seinerseits zum Frühstück einzuladen.

All das steigt erst wieder in mein Gefühl auf, als ich spät am Abend bei einer Flasche Rotwein anfange, wieder Deutsch zu denken und zu begreifen, dass ich fast schon zu Hause bin.

In Merzig an der unteren Saar steigt mein Freund Franz zu. Fairerweise hätte ich ihm per Handy sagen sollen, er möge zu Hause bleiben. Der letzte Tag war einer der schlimmsten. Bei 10 Grad Außentemperatur stehe ich am Außensteuerstand, alles am Körper, was ich an warmen Sachen an Bord habe. Und das Wetter will nicht besser werden. Wir fahren durch die Saarschleife, das touristische Sahnehäubchen des Landes. Mein Gott, muss das bei gutem Wetter hier schön sein.

Irgendwann sind wir bei Konz auf der Mosel. Halt für eine Nacht. Weiter bis Neumagen-Dhron. Hier lässt sich Franz per Taxi nach Wittlich in der Eifel zum Bahnhof chauffieren. Ich warte ab, bis sich der Nebel gelichtet hat und lege ab. Aber nach wenigen hundert Metern bereue ich meine Eile. Der Nebel wabert immer noch im engen Tal, die Sicht ist begrenzt. Aber zurück? Das geht jetzt nicht mehr. Ich denke, dass ich diese Entscheidung auch irrational gefällt habe ­ ich will nur noch nach Hause.

Foto: Abschleusen auf der Mosel

Franz folgt dem Abschleusen auf der Mosel von Poller zu Poller

In Traben-Trarbach will Linde wieder an Bord kommen. Ich gehe spät abends noch zu dem kleinen Bahnhof, um zu sehen, wie lange ich von meinem Liegeplatz dorthin brauche, um sie abzuholen. Und dann vertue ich mich um eine Stunde. Linde ruft mich an: ,,Wolltest du nicht am Bahnhof sein?" Ich merke, dass ich ziemlich geschafft bin.

Endlich: zwei Sonnentage mit Linde Wir haben Glück. Die nächsten zwei Tage sind spätsommerlich. Wir streifen durch die Weinorte, leicht irritiert durch das Dröhnen der Touristen, die sich hier die Kanne geben. Wir genießen die Fahrt entlang der steilen Terrassen mit Wein. Einzig der lebhafte Verkehr auf dem Fluss, der an vielen Stellen nur eine enge Fahrrinne hat, stört mein Wohlbefinden ein bisschen.

In Kobern-Gondorf, wo Linde wieder aussteigen muss, finden wir sogar ein richtig gutes Lokal im klassisch-edlen Stil italienischer Restaurants, das beste der ganzen Reise. Wir sind glücklich. In Koblenz gibt es noch einen freien Platz beim Yachtclub Rheinlache. Wie wunderschön wäre es hier, wenn es nicht wieder regnete...

Franz kommt wieder. Ich habe ihn darum gebeten, denn auf der Rennstrecke von hier bis Düsseldorf möchte ich nicht allein an Bord sein ­ und für Franz ist das Rudergehen immer noch ein Vergnügen. Danke Franz. Regen prasselt auf die Sprayhood, der Wind baut richtige Wellen mit brechenden Kämmen auf, irgendwann hagelt es. Ich beschließe, vom Innensteuerstand zu fahren.

In anderthalb Tagen sind wir zu Hause. In Düsseldorf scheint die Sonne.

Was bleibt zu sagen?

Ich habe genau 105 Tage für diese Reise gebraucht. Zwei Wochen mehr als geplant. Bei normalem Wetter hätte das keine große Bedeutung gehabt, aber bei mehr als 50 Regentagen war das entschieden zu lang, zu anstrengend. Ich habe 5 Kilo abgenommen und habe noch knapp 63 Kilo bei der Ankunft auf die Waage gebracht.

Ich habe oft mit meiner Angst kämpfen müssen. Was geschieht, wenn jetzt die Maschine ausfällt? Oder sonst ein wichtiges Aggregat? Wenn ich krank werde? Wenn ich mich verletze? Ich bin glücklich, dass das alles nicht eingetreten ist. Es wäre für mich allein schwierig geworden.

Ich habe andererseits sehr viel gelernt, phantastische Landschaften und Orte gesehen, sehr nette Menschen kennen gelernt. Mein Boot war mir in dieser Zeit eine Heimat, in der ich mich sicher aufgehoben fühlte.

Und trotzdem: Ich möchte diese Reise unter diesen Bedingungen nicht noch mal machen.