Guenter Mallmann – Fachjournalist im DJV

Zukunft für die Vergangenheit

Sechs griechische Dörfer wollen zwar den Tourismus, dabei aber nicht ihre Identität verlieren – Zum Beispiel das Piliondorf Makrinitsa

Sich waschen ohne sich nass zu machen, das geht nicht. Aber es muss doch etwas dazwischen geben. Eine Formel, nach der ein Dorf zwar vom Tourismus leben kann, aber nicht gleichzeitig zum Rummelplatz verkommt. Im Kontrast zur weiterhin ungehemmten Expansion haben sechs griechische Gemeinden einen Weg eingeschlagen, der es sein könnte. Bei uns spricht man vom "sanften" Tourismus. Für Griechenland ist das absolut unbekannt. Das Piliondorf Makrinitsa steht für die neue Form.

Nikos Tsoukas ist seit neun Jahren hauptamtlicher Bürgermeister des Dorfes Makrinitsa oberhalb von Volos im Piliongebirge. Von den 650 Einwohnern kennt ihn jeder, und er kennt wahrscheinlich auch jeden. Und die meisten stehen zu dem, was er ihnen und dem Ort vorgegeben hat: eine neue Form des Tourismus. "Natürlich", lacht er, "natürlich hätten einige kapitalkräftige Unternehmer aus Athen gern hier Bettenburgen gebaut und natürlich hätten auch einige Leute hier im Ort gern ihre kleinen Pensionen aufgestockt - so wie sonst überall in Griechenland, wo man auf Tourismus setzt". Aber in zäher Überzeugungsarbeit ist es ihm und einigen Mitstreitern gelungen, solche Projekte abzuwimmeln. Und jeder neue Angriff auf diese "konservative" Linie hat nur eins zur Folge: der Widerstand wird noch heftiger.

Foto: Makrinitsa Link: Vollbild

Kaum breiter als die Spur eines Personenwagens - und blitzsauber - sind die Sträßchen von Makrinitsa. Und selbst Neubauten orientieren sich strikt am lokalen Stil.

Das Bergdorf, zwischen 650 und 1.000 Metern Höhe an der Flanke des "Pourianos" mit seinen 1.650 Metern gelegen, hat sein äußeres Erscheinungsbild aus der Zeit vor dem großen Touristenboom praktisch eingefroren. Gebaut werden darf nur auf den Grundmauern halb zerfallener alter Häuser - und nur im typischen Stil der Bergregion. Und auf den wenigen befahrbaren Dorfstraßen verkehrt höchstenfalls die Müllabfuhr. Ansonsten dürfen nur Taxis in die engen Gassen.

Tsoukas kann sich vorstellen, dass die Bettenkapazität von derzeit 400  Betten noch um zehn bis 15 Prozent steigt, "aber dann ist Schluss, mehr verkraftet unsere Infrastruktur nicht!" Wie kriegt ein "kleiner Dorfpolitiker" seine Gemeinde dazu, dieser Selbstbeschränkung mit großer Mehrheit zuzustimmen? "Indem ich den Leuten klarmachte, dass das, was wir haben, kostbar ist, und dass wir es erhalten und pflegen müssen, denn nur dann können wir auch langfristig damit ein gutes Geschäft machen", sagt Tsoukas.

Die Kostbarkeiten von Makrinitsa: Das Dorf am steilen Hang des Gebirges bietet ein einmaliges Ensemble von Herrschaftshäusern im typischen pilioritischen Stil. Und fast jedes einzelne bietet von seiner Südseite aus einen unvergleichlichen Blick hinunter auf die Bucht von Volos, auf die Lichter von Stadt und Hafen und die massigen Gebirgszüge am Horizont dahinter.

Auf der Terrasse des Restaurants Pantheon am Dorfplatz stehend, kann man den von allen Griechen verehrten Staatsmann Eleftherios Venizelos verstehen, der diesen Platz spontan den "Balkon des Pilion" genannt hat.

Seltene Kräuter und alte Eselspfade

Makrinitsa liegt inmitten von dichten Wäldern, Ostgärten und Olivenhainen. Alte, gepflasterte Pfade winden sich in zahllosen Kurven hinauf in die fast baumlosen Höhen des Pourianos, wo seltene Kräuter gedeihen, von deren Heilkraft die alten Frauen des Dorfes noch wissen. Ihre Kenntnisse werden heute systematisch erfasst und konserviert. Für Naturfreunde und Wanderer ein einmaliges Areal, zumal die Höhenlage auch im Hochsommer immer Kühle bereit hält. Die Wege werden nach und nach immer besser gepflegt und markiert; der griechische Gebirgsverein plant gerade in 1.300 Metern Höhe eine Hütte.

"Damit", so der Bürgermeister voller Stolz, "erschließen wir uns eine Klientel, die in Griechenland bislang noch kaum bedient wurde". Tatsächlich sind die Griechen gerade erst dabei, Wandern als Freizeitbetätigung zu entdecken!

Burgähnliche Archontika mit traumhafter Aussicht

Makrinitsa, schon im 13. Jahrhundert gegründet, war im 18. und 19. Jahrhundert ein großes, reiches Dorf und eines der kulturellen Zentren des Landes. Seidenraupenzucht, Textilwirtschaft, Obst- und Olivenanbau, das waren die natürlichen Ressourcen. Und zahlreiche im Ausland zu Reichtum gekommene Griechen bauten hier ihre für diese Zeit überaus luxuriösen Alterssitze.

Viele dieser burgähnlichen "Archontika" sind erhalten und behutsam restauriert. Einige sind in traumhafte kleine Hotels umgewandelt worden. In maximal zehn Zimmern findet der Gast hier einen Komfort, der für Griechenland ungewöhnlich ist. Allerdings lassen sich die Nachfahren der Seidenraupenzüchter und Händler diesen Luxus auch bezahlen. Je nach Saison kostet das Doppelzimmer ab 100 Mark.

Ein Kulturprogramm für das ganze Jahr

"Bei uns hat sich inzwischen die Saison auf zwölf Monate ausgedehnt", betont der Bürgermeister und blickt dabei fast mitleidsvoll hinunter auf die Strände nahe der großen Stadt, wo nach höchstens drei heißen Sommermonaten die Rollläden herunter gelassen werden. Mehr noch: die Sommermonate sind ganz offiziell Nachsaison, "nicht mal Zwischensaison!". Wie das?

Der Grund ist einfach: Makrinitsa hat über das ganze Jahr einiges zu bieten: die klare Luft und das Blütenmeer im Frühjahr, die Kühle im Hochsommer, die Farben des Herbstes und den Schnee des Winters, inklusive des Skibetriebs am Berg hinter der Haustür, "aber weit genug weg von uns". Tsoukas ist der Skitourismus, der sein Dorf am Rande berührt, fast peinlich, weil er nicht das Publikum anspricht, das er im Auge hat.

Denn seine Strategie ist eine andere: ein vielfältiges kulturelles Programm für das ganze Jahr. So mancher landesweit verehrte Sänger tritt lieber vor wenigen hundert Zuhörern auf dem Platz vor der Hauptkirche Panagias auf als in einem Konzertsaal in Athen. Und Literaten, Musiker und bildende Künstler aus ganz Europa treffen sich regelmäßig zu Symposien und Veranstaltungen, bei denen sie dem Publikum näher kommen als sonstwo.

Daneben hat die Gemeinde großen Wert darauf gelegt, die lokalen Traditionen zu erhalten beziehungsweise wiederzubeleben. Ein liebevoll gepflegtes Museum gibt Auskunft über das Leben in den letzten zwei Jahrhunderten, die 17 Kirchen und die Klöster werden reihum detailgetreu restauriert, eine Vierteljahreszeitschrift auf hohem Niveau befasst sich mit Kunst und Geschichte und fördert damit Kenntnis und Verständnis für die Kulturinitiative bei der Bevölkerung und den Freunden der Kommune (leider vorerst nur in griechischer Sprache). Volkstänze in Originaltracht, Volksmusik-Konzerte, Vorführungen von handwerklichen Traditionen, sogar der Betrieb einer historischen Gerberei stehen in wirkungsvollem Kontrast zu dem oberflächlichen oder gar verfälschten Griechenlandbild, das sonst gern für Touristen koloriert wird.

Die Regierung hat inzwischen auch das Umweltbewusstsein belohnt, das Tsoukas und seine Getreuen propagieren. Makrinitsa ist Standort eines Zentrums für Umweltausbildung, zu dem Schulklassen aus dem ganzen Land pilgern. "Ich hätte nichts dagegen, wenn auch deutsche Schulen zu Kursen hierher kämen", gibt er eine Anregung und leitet über zum Thema "internationaler Tourismus".

"Bisher sind es vor allem die kunst- und kulturinteressierten Griechen aus Athen und Thessaloniki, die unser Publikum darstellen. ´Europäer´, das sind nach griechischem Verständnis also Deutsche, Engländer, Franzosen, Italiener, kommen überwiegend im Sommer für wenige Stunden. Auch für diese dürfte unser Angebot in den übrigen Monaten interessant sein. Wer wirklich griechische Kultur kennenlernen will, hier kann er es."

Die verschworenen sechs

Makrinitsa hat sich mit fünf weiteren Orten aus völlig anderen Regionen zusammengefunden, die ebenfalls Schrittmacher auf diesem Weg des "sanften" Tourismus sind. Sie unterstützen und befruchten sich gegenseitig mit Ideen und Erfahrungen. Mit Sicherheit wird sich diese Zahl erhöhen, denn "Zukunft für die Vergangenheit", wie Bürgermeister Tsoukas das Grundprinzip griffig formuliert, dürfte sich durchsetzen.

© Günter Mallmann
November 1999