Guenter Mallmann – Fachjournalist im DJV

Zukunft für die Vergangenheit

Sanfter Tourismus auf Griechisch - Das Piliondorf Makrinitsa lebt gut davon

"Sagt Ihnen der Name Eleftheros Venizelos etwas?", fragt mich Kostas Tsoukas. Ja, natürlich, ich weiß. Er war einer der berühmtesten Staatspräsidenten Griechenlands. "Er nannte diesen Platz den Balkon des Pilion", fährt Kostas fort und kann eine gewisse Ergriffenheit nicht verbergen. Wir schauen schweigend hinaus in die Nacht. Tief unter uns, 800 Meter tiefer, zittern die Lichter der Stadt Volos in der noch heißen Luft. Weiter im Süden, hinter der großen pagasitischen Bucht, huschen Autoscheinwerfer durch die Nacht. Und ganz weit am Horizont erkennt man die Gipfel eines mächtigen Gebirgsmassivs im Licht des Mondes. Wir stehen ziemlich lange hier.

Wir hatten auf der Anreise zu unserer "Wahlheimat" Pilion einige Tage in dem Gebirgsdorf Papingo nahe der albanischen Grenze verbracht. Im Gespräch mit unserem Pensionswirt hatten wir dabei zum ersten Mal gehört von einem merkwürdigen Bund von sechs griechischen Dörfern. Sie alle streben eine andere Art des Tourismus an. Und zu diesem Sechser-Club zählt, wir vernahmen es mit Staunen, auch das Piliondorf Makrinitsa. Grund genug, der Sache vor Ort nach zu gehen. Unsere Freunde Pavlo und Maria, Herausgeber eines Pilion-Führers, kannten den Bürgermeister und führten uns bei ihm ein.

Eigentlich, so dachten wir, kennen wir Makrinitsa. Eine deutsche Freundin lebte früher hier, wir besuchten sie regelmäßig. Doch dann zog sie, es muß fast 20 Jahre her sein, hinunter in die Stadt. Es gab keinen Grund mehr, die endlosen Serpentinen hinauf ins Gebirge zu fahren. Es würde wohl auch nicht mehr lohnen. Makrinitsa, davon waren wir überzeugt, war sicherlich längst zum touristischen Rummelplatz verkommen - wie die meisten schönen Orte des Landes. Schade, denn vor dem großen Tourismus-Boom war Makrinitsa eine Perle unter den Piliondörfern.

Und jetzt gehen wir staunend die Straße vom Parkplatz unten am Brunnen hinauf zur Platia, dem Dorfplatz mit den alles beherrschenden, riesigen Platanen. Nichts hat sich zum Nachteil verändert. Im Gegenteil. Die herrschaftlichen Archontika, diese burgähnlichen Turmhäuser aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, links und rechts des gepflasterten Sträßchens sind liebevoll-dezent restauriert, die wenigen Souvenir-Läden üben sich in bemerkenswerter Diskretion, es blitzt vor Sauberkeit. Und kein Auto, kein Motorrad zwingt uns zu lebensrettenden Sprüngen in Torbögen oder Haustüren. Wir staunen...

"Als ich vor neun Jahren zum hauptamtlichen Bürgermeister des Dorfes gewählt wurde, hatte ich ein Programm", sagt uns Kostas Tsoukas in seinem kleinen Büro direkt an der Platia. "Mein Programm war, dass wir uns dem Massentourismus entgegenstemmen müssen, dass wir das, was wir haben, erhalten und pflegen müssen, um es auch noch in vielen Jahren unseren Gästen zeigen zu können." Kostas hat sich durchgesetzt, er ist wieder gewählt worden - und wird es bei den nächsten Kommunalwahlen bestimmt erneut.

Später am Abend, die Griechen sind nun mal Nachtschwärmer, sitzen wir mit ihm und unseren Freunden wenige Meter weiter auf der Terrasse des Restaurants bei Lamm mit Kithiraki und kräftigem Mavrodaphni. Maria, das Sprachgenie, greift helfend ein, wenn unsere immer noch bejammernswerten Griechischkenntnisse wieder mal nicht ausreichen, eine Frage präzise auf den Punkt zu bringen. Was macht Makrinitsa, was machen die andern fünf Orte anders als der Rest des Landes?

Kostas legt die Gabel aus der Hand und holt aus zu einer weiten, umfassenden Geste: "Alles", lacht er. Und dann zählt er auf: "Gebaut werden darf hier nur auf den Fundamenten alter Häuser - und nur im Stil unserer Gegend. Bettenburgen wird es hier nicht geben. Zum zweiten bemühen wir uns um eine Erhaltung und Wiederbelebung alten Brauchtums. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir eine alte Gerberei restauriert haben und richtig betreiben. Dazu gehört auch, dass wir das Wissen unserer alten Frauen um die Heilkräuter hier erfassen. Und dazu gehört, dass wir den Verkehr aus unseren Sträßchen heraushalten."

Richtig: in den verwinkelten, schmalen Gassen begegnet uns hin und wieder ein Bauer auf seinem Muli, sonst nichts außer Fußgängern.

Wir haben Quartier bezogen in einem dieser wunderschönen, intimen kleinen Archontika mit ihren wenigen Zimmern. Es ist lange nach Mitternacht. Wir stehen am kleinen Fenster unseres Raumes und schauen hinunter nach Volos. Noch immer strahlt die Stadt in vollem Licht. Wann gehen die Städter im Sommer eigentlich zu Bett?

Am nächsten Morgen dann ein Besuch im Museum. Es ist eines der traditionellen Herrschaftshäuser, nur wenige Meter unterhalb der Platia. Wir sind angekündigt, und die Aufsicht führende junge Griechin freut sich über unser Interesse. Staunend stehen wir vor alten Webstühlen, vor Küchengerät aus einer andern Zeit und vor all den Zeugnissen einer kriegerischen Vergangenheit. Denn obwohl die Dörfer des Pilion unter der Türkenherrschaft eine ziemlich große Autonomie genossen, haben sie sich immer wieder aufgelehnt gegen das Joch der Fremdherrschaft.

Wir verstehen auf einmal etwas mehr von dem immer noch fühlbaren Misstrauen gegen die Türken, das eine Annäherung so unendlich schwer macht...

Günter Mallmann
November 1999